NEU: Die gute „Dolce China“-Wurst

10. Januar 2011

Bunte Blüten treibt das Schnellgaststättengewerbe bzw. wirft Faltblätter auch in Briefkästen, auf denen “Bitte keine Werbung” steht. So heute eins mit folgenden fett und bunt gedruckten Überschriften:

Dolce Vita. CHINA EXPRESS. NEU bei uns: Currywurst.

Kein Wunder, dass manche Mitbürger “Multikulti” für gescheitert halten. Wer ständig möglichst viel (multi) vom Schlechtesten was andere “kulti” zu bieten haben in einen Topf wirft, bekommt noch lange kein bekömmliches Abendessen. Dabei ist doch eigentlich klar, dass in einem richtig guten Cross over-Gulasch das Beste von allem drin ist und nicht die Abfälle.

Aber was wollen die Leute stattdessen (um sich gierig satt zu essen)??? Analogkäsekuchen (“Pizza”) mit Formvorderschinken unbestimmter Anbaugebiete (“prosciutto”), gaumenzerschneidende Maismehltrockenscheiben (“taco shells”), gepresste Hühnerfleischabschnitte (“Saté-Spieß”), Hauptsache billig-billig-billig und das Zeug kommt verzehrwarm eingeschweißt direkt an die Wohnungstür, wo man es sofort aufreissen und mit dem mitgelieferten Plastikbesteck ohne Umweg über die Küche im Stehen reinschlingen kann.

Warum? Weil sie keine Ahnung haben und keine haben wollen, weil sie sich nicht dafür interessieren was wo drin ist, woher was kommt und was was bedeutet und wie das alles zusammenhängt. Und weil sie einfach zu faul zum Selbermachen und -denken sind. Leider.

Und leider nicht nur bei der Nahrungszufuhr, sondern auch im sonstigen richtigen Leben. Das Ergebnis? Zerrbilder von “internationaler Küche” und “cross over” und nach dem gleichen Muster auch von anderen Kulturen und eben “Multikulti”.

Das Etablissement “Dolce Vita – China Express” – bezeichnenderweise ohne ausgewiesenen festen Wohnsitz, nur mit Telefon für die schnelle Schlingnummer zwischendurch – als Spiegel der Gesellschaft: Wer hätte das heute morgen vor dem Leeren des Briefkastens gedacht?

Frohe Weihnachten! oder „Heiliger ungarischer Bimbam“

Am frühen Nachmittag des 24. Dezember 2012 muss ich noch schnell etwas los werden:

Rechtzeitig zu Weihnachten krönt die ungarische Regierung unter Führung ihres Sonnenkönigs Viktor Orbán („Orbán király“) ihre ohnehin bereits ätzende Innenpolitik vorläufig mit einem souverän alle OSZE und EU-Standards ignorierenden Medienzensurgesetz. Dreistigkeit und Demokratieverachtung kennen bekanntlich keine Grenzen, auf weitere Großtaten in Richtung Gleichschaltung der ungarischen öffentlichen Meinung und Unterdrückung oppositoneller Positionen kann gelassen gewartet werden. Die notorisch konfliktscheue EU-Kommission kriegt den Bürokratenarsch nicht hoch und wird einem Land mit solchen dubiosen Praktiken zum 1.1. den Vorsitz übergeben. Armes Europa, armes Ungarn.

Leider wird die Berichterstattung über die ungarische Innenpolitik schnell wieder zurückgehen. Ein Wunder und dem skandalösen Mediengesetz und der Ratspräsidentschaft 2011 geschuldet, dass jetzt überhaupt soviel berichtet wurde. Wer sich interessiert, findet auf dem in Deutschland gehosteten Blog „pusztaranger“*) immer wieder aktuell einen Haufen Material, vor allem aber Auswertungen von originalen ungarischen Quellen (Medien, websites etc.). Die internationale Presse berichtet in der Regel ja nur auf Grundlage von Sekundärinformationen, oft ensprechend oberflächlich. Eine weitere deutschsprachige Quelle ist die Online-Plattform „Pester Lloyd“*), die hoffentlich nicht vom Mediengesetzt betroffen, weil nicht in Ungarn gehostet wird. Der aktuelle Kommentar des Chefredakteurs ist überaus interessant.

So, denn mal auf zum Christbaumschmücken!

*) Stand Oktober 2024 sind beide Plattformen nicht mehr aktiv.

Nahblindheit,Tunnelblick

20. Dezember 2020

„Frohe Weihnachten wünsche ich Euch!!! Der Anhang ist eine kleine Pause wert! Herzlich“ grüßt eine liebe Kollegin per E-Mail und empfiehlt das Youtube-Video Christmas Food Court Flash Mob, Hallelujah Chorus – Must See!

Ein schöner Streifen, ein geniales Musikstück, unkaputtbar. Die kleine Aufmerksamkeit ist verbunden mit dem Wunsch, dass wir alle mal innezuhalten und uns verzaubern lassen. Soweit alles Bestens. Mein kleiner Beigeschmack: während jetzt alle auf u-tjuub starren, probt ein ähnlich ambitionierter Kirchenchor irgendwo in Frankfurt Händels Messias samt Halleluja und keiner merkt es. Das Internet, die Medien ziehen uns alle raus und weg aus unserer unmittelbaren Umgebung, unserem eigenen Alltag. Wir werden blind für das was um uns herum geschieht, schauen durch Tunnel in weit entfernte Galaxien. Die meisten „Aaaahs“ und „oooohs“ können wir uns aber auch direkt im Konzert um die nächste Ecke abholen oder in der Oper, im Kino, im Theater. Aber wer weiß das denn schon (noch) wirklich, wer fragt danach? Zumal man auch durch den Schneematsch latschen und sich vorher Karten besorgen müsste. Und das  „Halleluja“ kommt in echt halt nicht nur als 4-minütiges Dessert, sondern als  Teil eines dreieinhalbstündigen Oratoriums oder wenigstens eines 2-stündigen Konzerts mit noch anderen Programmpunkten.

Denn auch das muss man feststellen: auf dem Video ist jetzt nicht gerade eine übermäßig berauschende Giga-Interpratation des Händel’schen Hallelujas. Dieses Niveau hat hierzulande jeder zweite mittelstädtische Kirchenchor. Nur traut der sich normalerweise nicht zwischen die Schnellimbisse im Nordwestzentrum. Leider.

Kurtág (*1926): Kafka-Fragmente op. 24 (1985)

5. Dezember 2010

Heute am späten Vormittag Konzertmatinée im Museum Wiesbaden vor immerhin 30 Besuchern (Verwandte, Bekannte, Schüler): die virtuos aufsingenden und spielenden Carola Schlüter (Sopran) und Yumiko Noda (Violine) stellen Ihre minutiös bis ins letzte Detail durchgearbeitete Interpretation der Kurtág’schen Kafka-Fragemente von 1985 vor.

Ob sich die zwei kongenial auftrumpfenden Musikerinnen bei gleichem Aufwand und Gestaltungswillen und gemeinsamer Vorbereitung nicht eine mindest ebenso ausdrucksstarke Darbietung der Kafka-Texte selbst hätten erarbeiten, vielleicht auch improvisieren können? Über Strecken kommt das Stück so freitonal daher, dass man sich fragen kann, worin der eigentliche und unverwechselbare Beitrag des Komponisten zu diesem Vortrag bestanden hat oder warum die Musikerinnen lieber der letzten Verästelung von Kurtágs im Notentext penibel fixierter Phantasie als ihrer eigenen Erfindungsfreude folgen wollten.

Zumindest ist es nach Hape Kerkeling „HUUURZ! Auf der grünen Wiese…“ extrem schwierig, ausreichend sittlichen Ernst für die Rezeption der Kafka-Fragmente zu mobilisieren. Komponist und Interpreten sollten den Kerkeling sehr genau studieren und sich ein paar gute Fertigbausätze zurechtlegen, warum genau ihr Stück keine Parodie, sondern Kunst ist und der Hape eben nicht. Ein Ritt auf der Rasierklinge, will man meinen.

Es war dennoch ein beeindruckendes Konzert. Dabei als eine kleine Kafka-Entdeckung folgendes „Fragment“:

„Leoparden brechen in den Tempel ein und saufen die Opferkrüge leer: das wiederholt sich immer wieder: schließlich kann man es vorausberechnen, und es wird ein Teil der Zeremonie.“

Danach in die Blaue-Reiter-(mit Ausflügen ins Sublime-)Ausstellung. Bei einigen Exponaten ähnliche Fragen wie an Kurtág.

Ungarn im Oktober 2006

Budapest, 23. 0ktober 2006

Ich will nicht wirklich auch nur annähernd versuchen zu erklären, was da gerade im Land der Gulaschkessel abgeht, der Weg über 1848, 1918, 1945, 1956, 1989 bis zum 50en Jahrestag des Aufstands von 1956 am 23. Oktober 2006 ist mir selbst nur in Ausschnitten einsichtig.

Zufällig (wirklich!) irrten wir am 23. und 24.10. durch die dortige Hauptstadt und sind am späten Nachmittag und Abend des vergangenen Montag wohl nur eher zufällig nicht zwischen die Fronten der Straßenschlacht geraten, aber auch wasserwerferbeworfen hätten wir die aktuelle Zuspitzung nicht wirklich besser verstanden.

Wenigstens ein Ergebnis brachte die nachträglich Recherche: von der internen Rede des Ministerpräsidenten Gyurcsány vor seiner Partei, die nach der indiskreten Veröffentlichung eines anonymen Mittschnitts die Opposition ihre Wähler auf die Straße treiben liess und die die momentane Krise auslöste, gibt es im www zugänglich eine (mässig gut übersetzte und gekürzte) deutsche Fassung sowie von dort über Links zu erreichen ein gesamtes Dossier zur Krise.
www.pesterlloyd.net/Archiv/2006_38/0638rede/0638rede.html

Achtung: nur als Materialsammlung betrachten, der „Pester Lloyd“ hat mich vor einger Zeit wg. seiner schwammigen Linie genervt.

Die Rede wurde skandalisiert und politisch ausgeschlachtet und ich müsste unehrlich oder naiv sein, wenn ich als politischer Gegner nicht auch dieses gefundene Fressen verschlungen haben würde. Aber was würde ich mich freuen, wenn ich wüsste, dass einer unserer Politiker in vergleichbarer Weise einmal das Visier herunter lässt und sich nackend vor wenigstens den parteieigenen Spiegel stellt – auch wenn es geheim bliebe und ich es nie erfahren würde.

Eine zweite deutschsprachige Zeitung in Budapest ist die „Budapester Zeitung“, auch dort gibt es natürlich laufend Artikel und Kommentare zur aktuellen Krise:
www.budapester.hu

Bei dieser Gelegenheit gleich noch folgender Link in Sachen ungarische Geschichte, einfach mal klicken:
http://www.terrorhaza.hu/index3.html

Procol Harum: „Homburg“

17. Februar 2006

Ernüchternde späte Wiederbegegnung: das Stück plätschert über 3:00 Minuten dahin, eine harmonische Sequenz folgt phrasenhaft der nächsten, ohne das Stück irgendwo hinzuführen. Es steht auf der Stelle.

Hatte es interessanter im Ohr. Vielleicht war es ja mal zum Knutschen gut beim Tanzen zu extrem langsamer Musik („Blues“, wie wir das kurz nach 1966 nannten). Dazu war es wie geschaffen: lang genug, dass man was davon hatte und kurz genug, damit die Mädels tapfer bis zum Schluss durchhalten konnten.

Jetzt, wo man so was nicht mehr braucht und macht, klingt das Stück seltsam hohl.

Mozart-Jahr 2006

17. Januar 2006

Das MOZART-JAHR 2006 (Wolferl wäre 250 geworden, wenn es ihn nicht frühzeitig ge(sau)beutelt hätte) scheint sich mehr in den Medien niederzuschlagen als in Konzertprogrammen: Der SPIEGEL titelt „Das himmlische Kind“, im Radio gibt’s täglich mehrfach Mozart-Briefe gelesen von Brandauer und das TV bringt Film um Film. Nach Lektüre des SPIEGEL-Artikels (Ausgabe 51/2005) habe ich mir Aufnahmen sämtlicher dort erwähnter – vermeintlicher – Leitwerke zum Verständnis des Phänomens M. (und des Artikels, muss man hinzufügen) besorgt und bin nach Studium einschliesslich Sichtung von Partituren vorerst gesättigt.

Was man vorher hätte wissen können: Mozart war und ist ein bedeutender und überaus wichtiger mitteleuropäischer Komponist, der zwar nicht von seinen Zeitgenossen, dafür aber bis heute um so mehr sehr aufmerksam wahrgenommen wird und auch bis jetzt schon auch ohne Anlässe wie Jubiläen permanent im Konzertleben präsent ist.

So richtig mehr als sowieso schon scheint nicht zu gehen, das ist genauso wie mit Schokolade: ab der 17. Mozartkugel wird einem tendentiell schlecht. Also: vorsichtig dosieren, dann klappts auch mit Amadé.

Frankfurter Fronttheater auf Abschiedstour

Hendrike von Sydow, Dieter Thomas
Programm: „Nabelschau“ (logo, der Setzer)

Diametral entgegen gesetzt zu dem wie mich die beiden zeit ihres Bühnenlebens mit ihrer persönlichen wischiwaschi-Art eigentlich oft auch genervt haben (neben den genossenen und gelungenen Auftritten), packt mich bei der Zeile „Frankfurter Fronttheater auf Abschiedstour!“ ein Schauer. Da geht was zu Ende, was ich nicht weglassen will, eine Zeit, ein Gefühl, ein Lebensabschnitt. Furschtbar!

Aber ich mach jetzt hier (noch) kein Jahresendzeitdrama und ich erzähl auch als Empfehlungstrick keine Witze aus alten Programmen, die haben nämlich alle, die jetzt das gleiche Gefühl haben wie ich, sowieso selbst gesehen. Und die andern können dann doch nicht drüber lachen und gehen doch nicht hin, oder …. ?!?!?

Ein müder Versuch: Wer wollte sich nicht an dem Dieter-Thomas-Klampfsong um den beschwerlichen und lebenslang als Trauma wirkenden „Langen Weg durch den Geburtskanal“ erfreuen (naja, wenn man die Phase der antiautoritären Erziehungskonzepte nicht durchlebt hat und was da alles als Entschuldigung für ein verpfuschtes Leben heran gezogen wurde). Oder an Sprüchen aus Programmen noch mit dem früh verblichenen Matthias Beltz, in Richtung deutsche Spießer zielend: „Hundehaufen mit Selbstschuss, Gartenzwerge mit Schießbefehl!“ (Matthias Beltz im grauen Hausmeisterkittel mit überdimensionalem Schlüsselbund in der Hand klimperd; da stand die Mauer noch).

Bis zum Schluss bleibt sich die Truppe treu. Trotzdem sie zeitweise sogar eine regelmäßige Sendung im Dritten hatte (oder gar in der ARD?), ist eine funktionierende Marketingabteilung immer noch nicht vorhanden oder macht seit 30 Jahren Dauerurlaub in Summerhill. Aber wozu braucht man auf einem gedruckten Flyer eigentlich eine Uhrzeit für den Veranstaltungsbeginn? Gehen wir doch um 17 Uhr mal vor die Stadthalle und warten bis es anfängt. Die versammelten Menschen machen ein Sit-, Steh- oder Frier-In mit und ohne Räucherstäbchen und Haschplätzchen (alle mal anfangen zu Backen!), Früchtetee in der geblümten Thermokanne ham eh alle dabei und wer nicht, kriegt einen Schluck aus dem ehemals fleischfarbenen und jetzt zerkratzten und innen mit polygeschmacklichem Teestein kunstvoll überzogenen Plastikschraubdecken. Ach, es wird ganz wie früher. Schalstricken? Auch gut. Abber man kann vielleicht einfach mal den Dieter oder die Hendrike anrufen, stehn bestimmt kognito im Telefonbuch (jedenfalls in der Ausgabe 1976 und sowas ham Leute ja zu Hause, die auf solche Veranstaltungen gehen): „also was meindern dieder wanner anfangt?“ – „……“ (Antwort von Dieder auf der anderen Seite) – „eiguud Dieder dann machemämal so um sibbe halbacht ma hie“. So einfach ist das. Und man hat sich zudem noch aktiv informiert, fast schon wie ein pflichtbewusster Staatsbürger, abber jeder muss schließlich mal klein anfangen. Jedenfalls ist der Erziehungsauftrag des Frontheaters eingelöst.

Der Eintritt kostet übrigens …? Hä, wo stehten dess jetzt? Naja, da erfüll ich mal meinen Erziehungsauftrag und geb eine kreative Hausaufgabe an meine Leser: Letzten Absatz kopieren und in ein leeres Dokument einfügen. Dann alle Wörter, die mit der Uhrzeit zu tun haben, um solche ersetzen, die mit dem Eintrittspreis zu tun haben und den Text insgesamt entsprechend anpassen.

Da fällt mir noch was ein, der Witz würde jedenfalls nahtlos neben das Fronttheater passen: Es geht darum was in Mathe aus dem guten alten Zwei- oder Dreisatz geworden ist. Hauptschule 1950: „Ein Bauer verkauft einen Sack Kartoffeln für 20 DM. Die Erzeugungskosten betragen 4/5 des Erlöses. Wie hoch ist der Gewinn?“ Sinngemäß lautete die Aufgabe in der maximalen Schnittzeit von Mengenlehre und antiautoritärer sowie auch natürlich politischer Erziehung an einer Gesamtschule 1980: „Ein Bauer verkauft einen Sack Kartoffeln zum Preis von 20 DM. Die Erzeugungskosten betragen 4/5 gleich 16 Mark. Der Gewinn beträgt 1/5 gleich 4 Mark. Unterstreiche das Wort „Kartoffeln“ und diskutiere mit Deinem Nachbarn darüber!“.

Das ist der Stoff, aus dem Fronttheater-Programme getrickt sind. (Und dieser Text schwankt zwischen alter und neuer und teils gar keiner Rechtschreibung, irgendwie passt auch das. Seufz.)

Tsunami

30. Dezember 2004

Leider sind die Ereignisse in der großen weiten Welt in diesem Jahr besonders wenig geeignet, irgendwelche illusionistischen Zukunftsphantasien zu entwerfen. Frieden, Glück, Gesundheit zu wünschen, droht zur Floskel zu verkommen, angesichts einer immer unfaßbarer werdenden Flutkatastrophe in Asien, davor Irak und die zweite Amtszeit Bush und was da immer sonst noch im letzten Jahr war und auf uns zuzukommen droht. Zu schweigen von Hartz IV und den kleineren und größeren näheren Malaisen als den – relativ – kleineren Übeln.

„Innehalten“ zum Jahresende, zurück- und nach vorne schauen, scheint mir in diesem Jahr besonders schwierig, aber auch notwendig. Natürlich geht erst mal „Lebbe weider“. Muss. Aber: man muss schon auch Routinen durchbrechen oder umgekehrt Dinge, die man sonst routinemäßig nicht tut, symbolisch doch tun, um nicht vor sich selbst das Gefühl zu haben, man sei machtlos und stumpfe ab. Ich werde in diesem Jahr für die Opfer der Flutkatastrophe spenden; für den Gegenwert des Feuerwerkes, das ich auch sonst nicht gezündet hätte.

Kunst und Kultur? Was zählt das angesichts von Krieg und Katastrophen? Für mich viel, vielleicht gerade deswegen und trotzdem. Ich vertraue in die Eigenschaft der Kultur, der Künste, Dinge lebbar und ertragbar zu machen, die sonst schwieriger zu bewältigen wären (dies ist auch eine meiner verschiedenen Definitionen des Begriffs Kultur oder was ich dafür halte).

Kunst, Künstler, Kultur im weitesten Sinne haben immer unter solchen und ähnlichen Verhältnissen – auch noch deutlich schlechteren – bestanden, vielleicht sind sie diesen ursächlich entsprungen als rituelle Bewältigung einer traumatischen äußeren Bedrohung – Gewalt, Katastrophen, Hunger, Einsamkeit – und haben dieser zusammen mit Religion (wenn man das an dieser Stelle überhaupt unterscheiden will) einen nicht mehr hinterfragbaren „höheren“ Sinn verliehen: „Nicht vom Brot allein…“

Was dieser Mechanismus hergibt? Alles, was die Situation zulässt oder Menschen in der Lage sind, daraus zu machen: von situativen, strikt reaktiven, autobiografisch gefangenen Äußerungen bis zu autarken, transzendierenden, raum-, situations- und zeitüberschreitenden, normativen ästhetischen und ethischen Hervorbringungen. Der Übergang – ohne jede Wertdeutung! – ist fließend: von Ringelnatz und Kästner bis Beethoven und Goethe.

Gute und schlechte, günstige und weniger günstige Zeiten für Kultur und Kulturschaffende? Kaum. 1648 bringt Heinrich Schütz seine Sammlung „Geistliche Chormusik“ zum Druck, noch bevor der 30-jährige Krieg zu Ende war, die pädagogisch-kompositorische, einem Vermächtnis gleichende Quintessenz eines auf dem geistigen Höhepunkt angelangten Genius. Wie konnte ein solch verdichtetes, in der Aussage kompaktes und ungebrochenes, von den Einflüssen der Umgebung scheinbar (!?) völlig unberührtes Werk in den Wirren und Gräueln des 30-jährigen Krieges gedacht und zu Ende gebracht werden? Keine Ahnung, aber es funktioniert und das tröstet mich.

Ich will es so zusammenfassen: den Lauf der Welt empfinde ich als erschütternd und angsteinflößend, aber nicht als hoffnungslos oder perspektivenlos. Allem, was mir dabei hilft, was Wege und Auswege aufzeigt, verleihe ich das Adelsprädikat „Kultur“.

Es scheint dabei eine menschliche Regung zu sein, dass den kleinen Gesten, den „Wundern des Alltags“ in schwierigen Zeiten eine besonders Bedeutung zukommt. Eine als vermisst gemeldete, unersetzliche alte wertvolle Geige ist wieder aufgetaucht ist. Sie wurde völlig unerwartet beim Fundbüro abgegeben! Es gab ein Freudenfest.

Zum „3. Frankfurter Singalong“ mit J.S. Bach WEIHNACHTSORATORIUM

29. Dezember 2004

Von dieser zum dritten Mal in Frankfurt stattfindenden Veranstaltung berichtete ich mit gemischten Gefühlen. Ich kann mir das tendenziell Gute, aber auch das Schreckliche daran sehr gut vorstellen. Man muss es ja nicht immer zu eng sehen, aber eine solche Szenerie vertausend-„aua“-t das, was an Bach ohnehin schon oft falsch gemacht wird: eine zu große Besetzung wird nochmals dramatisch vergrößert. Natürlich ist auch dieser Denkansatz schief, denn die Grundlage unserer heutigen Chorpraxis ist nun einmal die Kantorei, der bürgerliche Gesangverein des 19. Jahrhunderts. Das hat gleich sowieso nichts mit der Welt zu tun, in der Bach lebte und arbeitete. Ob da denn nun 80 oder 600 mitsingen, macht es auch nicht fundamental anders, wird aber hier vielleicht etwas unglücklich am falschen Werk exerziert. Und die Einbeziehung des Publikums, also der Gesamtheit der in einem großen Raum Anwesenden in das Musizieren hat durchaus etwas Faszinierendes, von Dynamik, Lautstärke und Raumklang beginnend bis zu egalitär-demokratischen Aspekten gedacht. Denn wie heißt es doch alle Jahre wieder: „AUCH DIE ARIEN KÖNNEN MITGESUNGEN WERDEN“.

An dieser Stelle, und da bin ich mir jetzt aber ganz sicher, heißt es Abschied nehmen von künstlerisch-interpretatorischen Werten und lustvoll eintauchen in ein musikalisches Massenspektakel, dessen oberstes Ziel als erreicht gelten kann, wenn es nach oder während „Herrscher des Himmels, erhöre das Lallen“ im Rund der Kirche St. Bernhardt zu einer spontanen „La ola“-Bekundung kommt oder im Anklang an „Ruu-uu-di Völler“ dem Dirigenten mit „Thoo-oo-mas Hanelt“ gehuldigt wird.

PS: Das nächste Massenspektakel in Frankfurt vor dem 4. Singalong, der Frankfurt-Marathon 2005, findet am 30.10.2005 statt. Das nächste Heimspiel der Eintracht ist am Montag, den 24.1.2005, um 20.15 Uhr gegen Alemania Aachen. Bitte nicht alle DSF schauen! Vielleicht kann sich ja ein Teil der Mitwirkenden des Singalong im wunderschönen neuen Stadion einfinden und die Aachener Spieler abwechselnd mit „Schlafe, Du Abwehr, genieße der Ruh“ einlullen und mit „Jauchzet, frohlocket“ die eigene Mannschaft auf Wolke 7 singen.