14. April 2011
Wer braucht den Eiffelturm in Originalgröße, nachgebaut aus Streichhölzern? Wer braucht Frikadellen aus pflanzlichem Fleischimitat? Wer braucht Käse, dessen Zutaten aus keiner tierischen Milchdrüse geflossen sind? Der heisst nun zwar leider neudeutsch „Analog-Käse“ und sollte besser in „virtueller Käse“ umbenannt werden, aber auch so hinkt das Gleichnis mit dem „virtual choir“ nicht sonderlich. Denn wer braucht „virtuelle Chöre“? Wohl nur die, die auch gerne Analog-Käse essen, Eiffeltürme aus Streichhölzern lieben und Sojabulletten.
Aber schauen wir mal rein in so einen virtuellen Gesangsverein, z.B. in Eric Whitacre’s Virtual Choir – ‚Lux Aurumque‘ auf Youtube. Erstmal gibt es hoch-ästhetische Klänge und Bilder. Aber schon beim anderthalbten Blick auf den Streifen winkt der gleich doppelte Beschiss: selbst die virtuelle Simulation eines singenden Chors ist virtuell simuliert. Also nicht nur Analaog-Käse, sondern simulierter Analog-Käse oder sagen wir die Nachbildung von echten Streichhölzern für den Eiffelturm aus zum Beispiel gebrauchten Zahnstochern, die täuschend echt Streichhölzern gleichen und alles zusammen ist der Eiffeltum (oder sieht so aus).
Wenn ja beim „virtual choir“ wenigstens in einem Raum tatsächlich alle Bildschirme und Lautsprecher gestanden hätten und die Sänger in Echtzeit miteinander gesungen hätten. Selbst das ist noch digital zusammengebastelt, nachbearbeitet und arrangiert. Kann man denn sicher sein, dass wenigstens die Einspielungen der einzelnen Sängerinnen und Sänger tatsächlich stattgefunden haben? Was ist denn da das Konzept, die Sichtweise, die Perspektive? Bestenfalls ist das blanker Surrealismus, nur dass es in unserer virtuos virtuellen Mediengesellschaft gar nicht mehr als solcher wahrgenommen wird. Als Kunstform ist der Surrealismus schon seit Ende der 1960er out und wartet nun nicht gerade wirklich auf seine Wiedererweckung durch authistische PC-Freaks.
Für mich erfüllt so ein virtueller Chor einfach nur den Tatbestand der Vortäuschung der Simulation einer künstlerischen und sozialen Interaktion bei gleichzeitiger antiseptisch vollzogener Vermeidung ihres tatsächlichen Stattfindens. Denn das würde ja unter Umständen Umstände bereiten: man könnte ja von seinem Schreibtischstuhl aufstehen müssen oder der Singnachbar könnte vergessen haben, ein Deo aufzurollen. Dazu passt nun auch der Klang: kalte Perfektion, steril. Selbst der starke Hall, der die Musik auf eine diffuse pseudo-andächtige ersatzreligiöse Gefühlsebene beamt, ist hörbar synthetisch und unwirklich. Kathedralen klingen wärmer und natürlicher.
Ich liebe es lieber warm und natürlich: Menschen zum Anfassen, zum in die Augen schauen, mit denen ich echt singe. Fazit: Schade um die Stunden, Tage, Wochen, Monate, die jemand bei herabgelassenen Rollo die Maus über den Schreibtisch geschubst hat. Und um die Kreativität und die technischen Fertigkeiten, die ja nun unzweifelbar doch auch in so einem „virtual choir“ stecken. Aber nun doch eben in einer Kopie von der simulierten Kopie einer Sache, die nun einmal doch dem Wesen nach eine andere ist.
„Virtual choir“: Der letzte – wenn auch hinreißend schön vorgetragene – Aufschrei final vor dem Flatscreen vereinsamender Menschen?