Budapest, 12. Juni 2004
Der tägliche Trubel ist vorbei. In der Kádár Étkezde am Klauzal-Platz verlieren sich letzte, spät eingekehrte Gäste an leeren Tischen. Zwei Bedienungen schlurfen, die Beine von der Wadenkrämpfen der letzten beiden Stunden befreiend, zwischen den leeren Tischen und der Küche umher, gleichwohl allzeit bereit, auch jetzt noch jeden Gast spüren zu lassen, dass sie für ihn da sind, freundlich, höflich, nur jetzt ganz ungehetzt. Der Zahlkellner sitzt oder steht oder beides an seinem Resopalpult und schaut matt durch die offen stehende Eingangstür auf den unter der Mittagswärme liegenden Platz: „Eső lesz“ – es wird regnen, so soll es der Wetterdienst gemeldet haben. Er gähnt.
Eine Kellnerin – halbhohe Servierstiefel – kommt und bittet um die Bestellung. „Eine Fleischsuppe – hús leves – ja aber, mit feinen Nudeln oder mit …?“. Der Rest ihrer Bestätigung geht in flüssigem Ungarisch durchs Ohr und am Verstehenkönnenorgan meines Hirns vorbei – nur später nicht versehentlich Hirn oder Lunge bestellen! – und flüssig angetäuscht erwidere ich „mit feinen ….. “ und vertraue ihrer Fähigkeit, sich den Satz ergänzend eingebildet zu haben, ich hätte in flüssigem Ungarisch „Nudeln“ gesagt. Wir verstehen uns. Sie zieht von dannen und ihre Kollegin tritt aus der Küche kommend auf mich zu – halbhohe Servierstiefel, kurzes schwarzes Röckchen, weißes Schürzchen – und ich teile Ihr nicht ganz ohne Bedauern und in flüssig gemurmeltem Ungarisch mit, dass ich schon bei der Kollegin bestellt habe.
Die bringt jetzt die heiße Suppe – es kann als gesichert gelten, dass Suppen in Ungarn heutzutage nun doch überwiegend heiß serviert werden, entgegen aller jahrzehntelang kultivierter Vorurteile gegen den realsozialistischen Schlendrian – sie bringt die Suppe nicht in einer Tasse, sondern in einer der größeren Terrinen für Gulasch- oder Fischsuppe: kurzes schwarzes Röckchen, weißes Schürzchen, älter als die Kollegin, biedere Frisur – Perücke? – große, unmodische goldberandete Augengläser. Ich werfe das ab, schaue ihr durch die Brille ins Auge und sende ihr weiter Klänge aus ihrer Muttersprache ans Ohr, die sie auf dem Weg ins ihr zentrales Sinnesorgan – nur nachher nicht versehentlich Hirn oder Lunge bestellen! – freundlich in richtige Wörter und Sätze reiht. Wir verstehen uns.
„Sajnos már nincsen“ – ja, nein, also das Kalbspaprikasch mit den Nockerln von der Tageskarte ist schon aus, leider. Die Tageskarte – kein Hirn, keine Lunge – weist noch Székler-Gulasch (mit Sauerkraut), Kuddeln und andere für die heiße Jahreszeit mir nicht ins Zeug passende Gerichte aus. Ich beginne an der normalen Karte zu lesen. Das ist aber nicht wirklich nötig, schon bietet sie mir aus dem Stehgreif ein Rindergulasch an, mit Kartoffeln. Ich akzeptiere und sitze wieder allein am Tisch.
Der Zahlkellner – ein Herr, der zum ersten Mal gesehen beim zweiten Mal schon immer dort saß mit schwarzer Hose, weißem Bediensteten-Sakko aus gestärktem Leinen, Anflug von grauen Bartstoppeln – inspiziert sein Fingernägel und spricht halblaut abwechselnd mit bereits gegangenen Gäste, den Bedienungen und sich selbst: „Esö lesz.“ „Zivatar is lesz?“ – er zuckt auf meine Frage mit den Schultern, von Sturm und Gewitter hat die Wettervorhersage nichts gesagt.
Zwei andere Gäste gehen, zahlen ungehetzt und von stammgastfloskelngespicktem Gespräch begleitet, während ich die drei großen halben Möhren in meiner heißen Suppe zu teilen beginne und bereits nach den ersten Löffeln schwitze. Am Besten schmeckt heiße Suppe im Hochsommer. Meine Bedienung bringt die als Ergänzung zum Gulasch gedachten scharfen Zutaten – trockene scharfe Paprika sowie ein Gläschen „Erös Pista“, scharfer Alexander, das auf dem Rest der Welt – nur hier nicht – Sambal Olek heißt – und zieht sich wieder in die – kühlere, wärmere? – Küche zurück. Von dort dringen muntere vor-dem-Feierabend-Aufräumklänge, das Klappern großer Töpfe und Deckel in den Gastraum. Ich kämpfe mit den wie immer zu langen Fadennudeln, die entweder als ein großer Klumpen um den Löffel geschlungen nur eingesogen werden können – zu heiß, zu laut – oder, wenn abgebissen, mit dem nicht sofort in den Mund geschafften Teilen in die Suppe zurückplatschen und heiße Brühe auf Tischdecke und Hemdbrust spritzen. Also doch die Nudeln mit der stumpfen Löffelkante durch die Flüssigkeit jagen und, wo immer sich ein paar der glatten Fäden eben am Tellerrand festhalten lassen, schnell zerteilen. Das dauert und kühlt die Brühe. Nachsalzen? Nein.
Die gerade leere Schale wird mit dem letzten daraus geschöpften Löffel Brühe durch den Teller mit dem Hauptgericht ersetzt, zwei für jeweils einen Vorgang gedachte Begleitfloskeln fließen zwanglos in einen Satz zusammen: „War die Suppe guten Appetit?!“. Dies ist eine Mittagsspeisung, kein Restaurant. Dampfender Rindergulasch der derberen Art – Reste von Tier sind sichtbar, Knöchelchen und Häute, aber auch viel Fleisch, anatomischer Neugier helfen wahlweise Veterinär, Metzger, Koch oder ein Biologiestudent weiter. Die reichliche Portion Kartoffeln ist bereits in der Art eines Eintopfs eingearbeitet. Kartoffelgulasch. Danke, nein, keinen Krautsalat dazu, auch sonst nichts. Ich schenke mir Wasser aus einer der an den Tischen stets bereitgehaltenen Mehrwegpfandsodaflaschen aus und halte Glas und Ausströmrohr in einem so ungünstigem Winkel zueinander, dass die Kohlensäure aus dem Siphon ein Wolke von Wassertropfen über Tisch und mein Gesicht ziehen lässt, sobald ich den Hebel drücke.
Der, die, das Gulasch ist wunderbar, heiß. Grosse heiße, ölige, wohlschmeckende Kartoffelstücke, die sich etwas leichter zerteilen lassen als zuvor die Nudeln, etwas. Sämiger rotbrauner, aber nicht eingebrannter oder angedickter Gulaschsud, Zwiebel-Paprika-Geschmack, etwas salzig reduziert, aber rund und intensiv. Saftig weichgeschmortes, keineswegs fasrig ausgelaugtes Fleisch, das von selbst von den Resten der Knöchelchen auf den Löffel sinkt. Danke. Ich brauche das am Tisch unter rot-weiß-karierten Stoffservietten angebotene Brot nicht, nicht zum Sattwerden, nicht zum Auftunken, Nachsalzen, nein. Nur ein Löffel Erös Pista kommt auf den Teller, wenn man es schon gebracht hat.
Weitere, noch spätere Gäste, Stammkundschaft. Ein Meter von mir wird Székler-Gulasch gegessen, kaum dass der Herr eingetreten und gesessen ist. Vorbestellung? Stammessen? Vorahnung der Bedienung? Vor der Tür – hinter meinem Rücken – Stimmen in ungarisch-jüdisch-österreichischem Deutsch, von den deutschen Wörtern dringt „Schauspieler“ herein. Da zeigt ein Herr ein paar anderen das Kádár am Klauzal-Platz und deutet durch die offene Tür herein verblichene Fotos, Zeitungsausschnitte und Zeichnungen an der Wand zur Touristenattraktion: „Schauspieler“. Der Herr am Tisch zu meiner Rechten richtet zwischen zwei Bissen ein paar schnelle ungarische Sätze an den Zahlkellner – witzelnd, genervt, genauer wissend, amüsiert – und mittendrin sagt auch er auf deutsch: „Schauspieler“.
Die öligen Reste des konzentrierten Gulaschsuds sind immer noch von so intensivem Aroma, dass ich sie auch kälter werdend noch mit dem Löffel von flachen Teller zu retten versuche, soweit dies eben ohne Tunkebrot machbar ist. Ich bin satt. Wasser kühlt die Kehle.
Der leere, wenn auch nicht brotblanke Teller, wird abgeholt. „Nagyon jó volt“ – sehr gut war es. Danke. Zum Nachtisch eine Portion Mohnnudeln? Um Himmelswillen, es war gerade genug, das wäre zuviel. Na schade, sagt sie, trottet davon, na schade, denke ich, und lasse die Speisen in mir sich setzen. Na schade, gerade Mohnnudeln, wo ich die doch so gerne essen und nirgendwo sonst mir nichts Dir nichts einfach bekomme und auch nicht oft selbst mache. Und wenn man einen Kaffee dazu tränke, möchte es gehen und vielleicht könnte ich morgen weniger essen oder heute Abend gar nicht, dann sollte es nicht schaden. Ich richte meinen suchenden Blick in Richtung Küche, wo sie im Durchgang mit dem Rücken zu mir steht und mache sie sich umdrehen, so will ich nun doch. Durch die Länge des Raums und diagonal dazu frage ich in flüssigem Ungarisch, alles verschämte Nuscheln vergessend und unterlassend – Gier – nach einer kleinen Portion Mohnnudeln. Sie kommt bis auf die halbe Entfernung – halbe Portion, halbe Entfernung – gestikulierend, zeigend, Portionen formend und Mengen mit den Händen beschreibend, gleichzeitig alles in flüssigem Ungarisch auch noch in Worte fassend, auf mich zu und überzeugt mich mühelos, dass jede, aber gerade die von Kádár heute angerichtete Portion Mohnnudeln immer klein ist, zu klein jedenfalls um daraus noch kleine oder halbe zu machen oder mindestens zu klein, um von Kádár noch mit Würde und gutem Gewissen einem zahlenden Gast angetragen zu werden. So etwas ähnliches wird sie gesagt haben. Wir verstehen uns immer besser. Eine kleine Portion Mohnnudeln, wie konnte ich nur auf die Idee kommen, Kádár kompromittieren zu müssen?
Heranschwebt ein Suppenteller mit Bandnudeln, schnörkellos gekrönt mit gemahlenem Mohn und klumpigem Puderzucker. Und in der Tat, die Tellermulde birgt eine bestenfalls mittlere, keine sehr große Portion, aber groß genug, dass magersüchtige Kleiderstangen auch ohne Mohn und Zucker bulämisch gezuckt haben würden, sagen wir, andernorts ist das ein – kleines – Hauptgericht. Nein, leider – „sajnos!“ – tut mir leid, Kaffee gibt es hier nicht. Ich gebe daher dem Mohn und dem Zucker Sodawasser auf die Reise durch meine Innereien zur Begleitung und esse in gemessenen Tempo den Teller leer. Da ich bereits satt bin, besteht keine Eile mehr.
Die anderen Gäste sind wieder verschwunden. Ich nehme einen letzen Schluck Sodawasser, meine neue Freundin räumt den Teller mit besten letzten Wünschen in die Küche. Ich sammle meine Siebensachen vom Tisch: Hotelprospekte, mein Notizbuch, das Mobiltelefon, mit dem ich vorhin ungeniert laut und deutsch telefoniert habe, ich fühle mich zu Hause. Der Zahlkellner erwartet mich bereits an seinem Tisch am Ausgang. Wir rekapitulieren das Menü, er rechnet. Die Summe erscheint mir – vergleichsweise – unerwartet hoch, doch schnell erklärlich: die Suppe könnte beinahe als Hauptgericht gesehen werden und ein Rindergulasch ist ein Rindergulasch, ergo gehört es nicht automatisch zu den günstigen Gerichten. Die Mohnnudeln sowie zwei getrennt berechnete, trotz und weil selbst eingeschenkte – eingespritzte ! – Gläser Wasser runden die Rechnung nach oben ab wie der nicht getrunkene Kaffee meinen Magen. Ich lege vom Wechselgeld – Wäxälgäld – 90 Forint als Trinkgeld auf den Tisch und weiß nicht, ob das üblich ist und ich mich besonders beliebt oder besonders unbeliebt mache. Der Dank – ausgesprochen aus mittlerer Entfernung, von wo man gerade noch sehen kann, was auf dem Tisch liegt – klingt freundlich erfreut. Alle sagen wir „Viszontlátásra“ – auf ein Wiedersehen – und mir wird noch zusätzlich ein ganz besonders schöner Tag gewünscht.
Und dann bin ich wieder eingetaucht ich in die sommerschattigfrischen und warmluftfleckigen Junistrassen des 6. Bezirks: Klauzal tér, Nagy Díofa utca, Dob utca, Király utca …..