30. Dezember 2004
Leider sind die Ereignisse in der großen weiten Welt in diesem Jahr besonders wenig geeignet, irgendwelche illusionistischen Zukunftsphantasien zu entwerfen. Frieden, Glück, Gesundheit zu wünschen, droht zur Floskel zu verkommen, angesichts einer immer unfaßbarer werdenden Flutkatastrophe in Asien, davor Irak und die zweite Amtszeit Bush und was da immer sonst noch im letzten Jahr war und auf uns zuzukommen droht. Zu schweigen von Hartz IV und den kleineren und größeren näheren Malaisen als den – relativ – kleineren Übeln.
„Innehalten“ zum Jahresende, zurück- und nach vorne schauen, scheint mir in diesem Jahr besonders schwierig, aber auch notwendig. Natürlich geht erst mal „Lebbe weider“. Muss. Aber: man muss schon auch Routinen durchbrechen oder umgekehrt Dinge, die man sonst routinemäßig nicht tut, symbolisch doch tun, um nicht vor sich selbst das Gefühl zu haben, man sei machtlos und stumpfe ab. Ich werde in diesem Jahr für die Opfer der Flutkatastrophe spenden; für den Gegenwert des Feuerwerkes, das ich auch sonst nicht gezündet hätte.
Kunst und Kultur? Was zählt das angesichts von Krieg und Katastrophen? Für mich viel, vielleicht gerade deswegen und trotzdem. Ich vertraue in die Eigenschaft der Kultur, der Künste, Dinge lebbar und ertragbar zu machen, die sonst schwieriger zu bewältigen wären (dies ist auch eine meiner verschiedenen Definitionen des Begriffs Kultur oder was ich dafür halte).
Kunst, Künstler, Kultur im weitesten Sinne haben immer unter solchen und ähnlichen Verhältnissen – auch noch deutlich schlechteren – bestanden, vielleicht sind sie diesen ursächlich entsprungen als rituelle Bewältigung einer traumatischen äußeren Bedrohung – Gewalt, Katastrophen, Hunger, Einsamkeit – und haben dieser zusammen mit Religion (wenn man das an dieser Stelle überhaupt unterscheiden will) einen nicht mehr hinterfragbaren „höheren“ Sinn verliehen: „Nicht vom Brot allein…“
Was dieser Mechanismus hergibt? Alles, was die Situation zulässt oder Menschen in der Lage sind, daraus zu machen: von situativen, strikt reaktiven, autobiografisch gefangenen Äußerungen bis zu autarken, transzendierenden, raum-, situations- und zeitüberschreitenden, normativen ästhetischen und ethischen Hervorbringungen. Der Übergang – ohne jede Wertdeutung! – ist fließend: von Ringelnatz und Kästner bis Beethoven und Goethe.
Gute und schlechte, günstige und weniger günstige Zeiten für Kultur und Kulturschaffende? Kaum. 1648 bringt Heinrich Schütz seine Sammlung „Geistliche Chormusik“ zum Druck, noch bevor der 30-jährige Krieg zu Ende war, die pädagogisch-kompositorische, einem Vermächtnis gleichende Quintessenz eines auf dem geistigen Höhepunkt angelangten Genius. Wie konnte ein solch verdichtetes, in der Aussage kompaktes und ungebrochenes, von den Einflüssen der Umgebung scheinbar (!?) völlig unberührtes Werk in den Wirren und Gräueln des 30-jährigen Krieges gedacht und zu Ende gebracht werden? Keine Ahnung, aber es funktioniert und das tröstet mich.
Ich will es so zusammenfassen: den Lauf der Welt empfinde ich als erschütternd und angsteinflößend, aber nicht als hoffnungslos oder perspektivenlos. Allem, was mir dabei hilft, was Wege und Auswege aufzeigt, verleihe ich das Adelsprädikat „Kultur“.
Es scheint dabei eine menschliche Regung zu sein, dass den kleinen Gesten, den „Wundern des Alltags“ in schwierigen Zeiten eine besonders Bedeutung zukommt. Eine als vermisst gemeldete, unersetzliche alte wertvolle Geige ist wieder aufgetaucht ist. Sie wurde völlig unerwartet beim Fundbüro abgegeben! Es gab ein Freudenfest.