Kann man seinen Kirchenaustritt eigentlich verlängern oder erneuern?

3. Februar 2022

In diesen Tagen geht es mir wie Menschen, die nach einer langen erfüllten Ehe den dringenden Wunsch haben, ein zweites Mal vor einen Priester zu treten, um das Sakrament in  Dankbarkeit zu erneuern. Vieles würde ich darum geben, noch einmal zum Amtsgericht gehen zu dürfen und meinen länger zurückliegenden Kirchenaustritt nachdrücklich zu bestätigen.

Frieden und Eintracht (Frankfurt)!

4. Februar 2021

BREAKING NEWS: Politische Partei setzt im Frankfurter Wahlkampf auf die Stimmen von Mitgliedern und Fans eines stadtbekannten Sportvereins. Absolute Mehrheit im Stadtparlament so gut wie sicher. Peter Fischer insistiert im Gegenzug auf einem aussichtsreichen Listenplatz, will die Interessen des Clubs lieber selbst vertreten. Mehr „win win win win“ geht nicht!

Und nichts wird dem Zufall überlassen: nicht ohne Absicht dürfte auf dem Kampagnenfoto im Hintergrund der Eingang zur Gaststätte „Tannenbaum“ im ehemals revolutionär brodelnden Stadtbezirk Bockenheim zu erkennen sein. Aus dieser Tür quollen einst leicht schoppenbenebelt nach dem Vorglühen sowohl der 68-er Umsturz ins nahe gelegene Westend als auch die Eintracht-Fans in Richtung Waldstadion: „Ole ole ole chi minh!“.

 

Dichtheit und Wahrung

Die Dichtheit eines Gefäßes erlaubt diesem die Wahrung seines Inhalts.
Dichtheit und Wahrung hängen also zusammen, durch welche Gesetzmäßigkeiten auch immer verbunden.
Wer will da ohne Not behaupten, dass es sich mit Dichtung und Wahrheit anders verhielte?

Sulz!

15. Januar 2019

Was für eine unerwartete Wiederbegegnung. Ein Nachbar in Ungarn beehrt mich mit einem Teller hausgemachtem SULZ, wie man hier früher im schönsten örtlichen Dialekt sagte. Das Wort selbst ist jetzt nicht so gar entfernt von der hochdeutschen „Sülze“, dafür das Gericht in seiner hier vormals gepflegten traditionellen und archaischen Urform – SULZ! –  aber umso ferner von all dem, was ich mir selbst täglich auf dem Gebiet der Ernährung beschaffe und zuführe.

Besagtes SULZ, was ist das? Man nehme reichlich Schwänzchen, Füße, Ohren (alles vom Schwein), vielleicht auch ein Schnäuzchen und überhaupt Schwarte und Knochen und koche das Ganze weich, würze nach Geschmack mit Salz, Pfeffer, Paprika. Das Kollagen geht aus Haut, Knochen und Knorpel in die Flüssigkeit über. Zu den frühen Kindheitszeiten, in denen mir Sulz noch durch die ungarndeutsche Familie meiner Mutter und Großmutter präsent war, wir sprechen von den 1950er und frühen 1960er Jahren, waren Kühlschränke noch nicht überall verbreitet, es gab SULZ also nur im Winter, bei uns standen dann immer 6-8 Teller auf der ungeheizten Speichertreppe. Man schippt etwas von den ausgekochten Zutaten auf Suppenteller und gießt reichlich von der Brühe drüber. Mit dem Auskühlen wird die Flüssigkeit durchsichtig und fest, so dass man bedenkenlos den Teller auf den Kopf stellen kann, ohne dass was  herausfällt. Keine Gelatine, kein Aspik. Alles Natur.

Gegessen wird kalt, mit Löffel, es schmatzt wenn man etwas aus dem Teller absticht und hochzieht. Meine Oma zog gerne das Gelee durch die Zähne und ließ genüsslich Knorpel zwischen den Zähnen knacken. Ich denke der Spaß beim  Essen war ihr ähnlich dem, den andere bei Götterspeise empfinden, auf die jemand Krokant gestreut hat. Und das dürfte fast das Wichtigste gewesen sein, denn an den Knöchlein und Knorpeln war ansonsten wenig, was hätte sättigen können, zumindest kein (rotes) Fleisch. Wie weit Ausgekochtes aus Haut und überhaupt Kollagen und Gelatine Nährstoffe und Kalorien enthält entzieht sich meiner Kenntnis, aber nach so einem Teller SULZ war man sicher trotzdem für eine Weile satt.

Selbst habe ich wohl schon in meiner Kindheit in Deutschland – aus welchen Gründen auch immer – einen großen Bogen um SULZ gemacht. Eine ganze Portion habe ich sicher nie gegessen und glaube auch nicht, dass ich überhaupt mal probieren wollte, musste oder durfte. Das war nicht so meins und Oma war in jedem Fall schneller und gieriger. Aber wir wurden schon als kleine Kinder zum Metzger einkaufen geschickt, mit einer großen Tasche und einem Zettel:  Brustkern – „Schiefleisch“ –  und Markknochen (für die Suppe),  Aufschnitt (für uns Kinder, smile!), später – als wir keine eigenen Schweine mehr großzogen – auch mal Hackfleisch, Schnitzel und Gulasch. In der SULZ-Saison wurde die Liste aber um die Posten „Ohren, Schwänze, Füße“ erweitert. Wir blickten also tapfer nach oben der hessischen Metzgersfrau ins Auge und verlangten die genannten Delikatessen. Dass sowas sonst jemand aus dem Ort gekauft hätte, ist mir nicht erinnerlich, meist wohl nur die aus der „Paprikasiedlung.“ Stigmatisierung durch SULZ! Ein Trauma, wobei es aber auch immer schön war, anders als die anderen zu sein. In diesem Sinne gehört SULZ also sehr wohl zu meiner Biografie, gegessen haben es aber andere.

Warum erzähle ich das?  Natürlich nicht, um all die Vegetarier und Veganer um mich herum zu schockieren. Meine Thema ist wie schon früher der Überfluss, die Verschwendung, der Realitätsverlust bei der Ernährung, der unermessliche Luxus, den wir uns leisten, in dem wir von unter tierquälerischen Bedingungen gezeugten und gemästeten Millionen von Lebewesen nur wenige, mit spitzen Fingern ausgewählte Teile konsumieren und wohl 80% des restlichen Kadavers zur Unkenntlichkeit weiterverarbeitet in dekonstruierte Sekundärprodukte oder in Hunde- und Katzennahrung verwandeln oder perverser- und zynischerweise tiefgefroren an die Armen in dieser Welt schicken. Die westafrikanischen Erzeuger ächzen unter dem Konkurrenzdruck von  Megatonnen tiefgefrorener billiger Hühnerfüße und –hälse und können selbstgezogene ganze Hühner auf den lokalen Märkten kaum noch zu den entstanden eigenen Kosten verkaufen.

Auf diesem Hintergrund mag mir meine Oma erscheinen wie eine Gallionsfigur für konsequentes und  ganzheitliches Wirtschaften und Handeln, wenn sie wohl auch, darauf angesprochen, nicht verstanden haben dürfte, was ich jetzt gerade sagen will. Aber wer von April, Mai drei Ferkel mit selbst angebauten Kartoffeln und zugekauftem Weizenschrot und Kraftfutter „Rrufff A“ bis in den Dezember hinein zweimal täglich abfüttert und groß und fett zieht, sich um Durchfall und andere Krankheiten dieser quiekenden Lebensabschnittspartner sorgte, im Ernstfall den Tierarzt kommen ließ  und zwei Tage vor dem Schlachttag weinend am Küchentisch saß, weil Peter und Gretel – sie gab den Ferkeln immer Namen – nun bald zu Schwartenmagen, Wurst und Schinken würden, der kommt nun mal nicht auf die Idee, auch nur irgendwelche Teile der Tiere nicht zu verwerten. Sie war das auf eine unausgesprochene  Art und Weise Peter und Gretel schuldig. Da müssen wir noch nicht einmal auf dem klischeeverschmierten Eis „Armut“, „Not“, „Subsistenz“ herumrutschen. Auch mit zwei Kreutzern in der Tasche wäre nix weggeworfen worden. Wir haben in Deutschland noch nicht einmal konsequent alle überlieferten Verwertungsmöglichkeiten wahrgenommen. Selbstverständlich haben wir für die hausgemachten Würste die Därme von Peter und Gretel mit von Opa geschnitzten Holzspateln ausgeschabt und damit gereinigt – damit wurden auch schon wir Kinder betraut -, aber die aufgefangene Schmiere aus Darmwandfett haben wir nicht mehr mit Pottasche vermischt zu Seife verarbeitet. Dafür fand aber sprichwörtlich alles außer den Knochen irgendwie Verwendung für die menschliche Ernährung und sorgte dafür, dass der Bedarf an tierischem Eiweiß für eine komplette Großfamilie auf ein komplettes Jahr mit Peter und Gretel gedeckt war.  Anfangs wurde nichts weiter zugekauft, der Rest war Schrebergarten und Gemüse. Aber die komplette Schwarte und alles Fett wurden – ich hatte mit vier Jahren meine erste eigene, von Mutter genähte weiße Schürze an und stolz ein wirklich scharfes und langes Schlachtermesser in der Hand – in Würfel geschnitten und in einem familieneigenen Kupferkessel von einem Meter Durchmesser im Hof über offenem Feuer zu Dutzenden Litern Schmalz geschmolzen, das sämtlichen Fett- und Ölbedarf bis weit ins Jahr hinein decken musste. Wenigstens in meinen ersten Kindheitsjahren wurden Hefekuchen – sei es mit gemahlenem  Mohn oder Walnüssen – weder mit Butter noch Öl, sehr wohl aber mit Schweineschmalz zubereitet. Zur Ernährung meiner Familie gehörten selbstverständlich auch Leber, Nieren, Herz, Lunge, Hirn und Blut. Und eben SULZ als Beispiel dafür, was man aus all dem machen kann, das sich nicht zu geräucherter Wurst und Schinken verarbeiten lässt oder wie Schälrippchen in Gläser eingekochten werden konnte.

Ob ich das heute noch mögen würde, sei dahin gestellt. Aber Butter bei die Fisch: auch die gereinigten Blasen von Peter und Gretel fanden Verwendung  als Gefäße für eine Dauerwust, die „Ginter“ genannt wurde, wobei es hier nicht um Geschmack oder Zutaten gehen soll, sondern um das umfassende Verwertungsprinzip. Magen und um Nebensegmente erweiterter Dickdarm fanden mit der Wurstspritze aufgefüllt und hernach an den Enden mit zuvor mit sinnigerweise passend handgeschnitzten Holzspießchen – hier wieder Opa Wochen im Voraus vorbereitend am Werk – ihren Verwendungszweck bei Würsten, die gerne ihrer Form und Hülle nach benannt wurden, wenn auch all recht ähnlich schmeckten. „Saures“ aus Leber, Niere, Lunge und Herz war DIE Delikatesse an Schlachttagen. Und eben SULZ.

Von Jordi Savall lernen heißt …………

25. Januar 2017

Jedes Konzert von Jordi Savall ist Balsam für die Seele. Fast grenzenlose Perfektion und Charisma kommen daher wie nette Beiläufigkeiten. Alles ist wie selbstverständlich bei sich, alles organisch und unverstellt, ohne theoretisierenden Überbau, pragmatisch im hier und jetzt. Hirn trifft Bauch. (Spiel)technische Schwierigkeiten hat nur das Publikum bei der Einnahme der Sitzplätze.

Savall nimmt sich die Freiheit, Stücke ganz anders zu spielen als andere es sich zu trauen und denken wagen würden. Vielleicht hat er nur das Glück, als Hispanier die traditionelle spanische Musik der Renaissance und des Barock gleich aus zwei Richtungen aufladen und dynamisieren zu können: mit aus Lateinamerika importierten musikalischen Elementen sowie mit dem Erbe von Al-Andalus. Aber das greift zu kurz: er ist vor allem ein Musiker, der sich Material grundsätzlich nach eigenem Gusto für sich selbst zurechtlegt, arrangiert und bearbeitet. Dies feststellen und betonen zu müssen ist beinahe eine Bankrotterklärung für den üblichen Musiktertypus des normalen Musikbetriebs, in dem der Eingriff in Kompositionen und das Collagieren von Material ein Tabu sind.

Man mag gerne darüber streiten, ob der Eingriff von Musikern in eine Komposition legitim oder strafbar ist, aber  Musizieren heißt immer Material und Idee zu interpretieren und das in deutlich weiterem Sinne, als wir es uns in ziemlich kleinlicher Weise gestatten oder zugeben. Sehr lange Zeit wurden mit der Notenschrift nur Material und Ideen skizziert, nicht notiert wurde dagegen Verständnis darüber, was damit zu tun ist und welche Freiheiten ich als Musizierender habe und auch nutzen soll(!).