4. Juli 2019
Um exakt 13:40 Uhr in Schwürbitz eine Fatamorgana: rechts am Waldrand im Augenwinkel, weiträumig eingezäunt, karamell-beige Trampeltiere. Ein Menetekel: ab in die Oase, Rast? Immer kommt die tägliche Sinnkrise auf langen Radetappen in Orten wie Schwürbitz. Zu heiß zum Anhalten, der kühlende Fahrtwind würde abflauen. Im Dorfkrug ist die Küche schon wieder kalt. Und überhaupt ist es viel zu früh, um schon für die Übernachtung einzukehren. Und was tun den Rest des Tages, hier in Schwürbitz?
Ich quäle mich weiter nach Lichtenfels und mache auf dem Marktplatz nach gut 70 km in einem Eiscafe eine längere Pause und erste Notizen.
Das Mobiltelefon erfreut mich nicht wirklich mit der Auskunft, dass es nach Bamberg noch 39 km sind. Das wird eng. Notfalls muss ich in Bad Staffelstein bleiben.
Am Morgen Abfahrt in Bayreuth um 9:00 Uhr, der erste Tag der Reise auf einer Langstrecke. Weil ich nicht wirklich gut vorbereitet bin und mir meiner Verfassung nicht sicher, dreht sich sich heute erst einmal alles um die Frage, wie weit ich kommen will oder kann. Dabei blenden wir die erste halbe Stunde einmal aus. Das Gefühl, dass alles weh tut und ich besser gleich wieder absteige, ist von früheren Reisen her bekanntes leeres Geschwätz meines Körpers. Die Muskeln finden sich nach und nach dort ein, wo sie gebraucht werden und schnurren gute 3 Stunden lang ohne Beanstandungen.
Trotzdem versuche ich immer noch, aus meinen Beinen zu lesen wo es hingehen wird, vergeblich. Der frühe Nachmittag wird die Wahrheit verkünden. Und von Schwürbitz habe ich da noch nichts gewusst. Auch der Wind hat mir nichts erzählt, er kommt mal von vorne, mal von der Seite und gerne auch von hinten.
So rollt es dann dahin und ich schaue in die liebliche Landschaft mit ihren fränkischen Örtchen und Städtchen und dem breiten Flußtal.
Die Beschaffenheit der Strecke ist abschnittsweise sehr unterschiedlich. Asphalt, unbefestigte Wege. Mal geht es ganz flach in der Flußebene voran, gelegentlich giftig auf kleine Anhöhen an der Seite des Tales und gleich wieder herunter. Immerhin irgendwann Kulmbach und ein erster Capuccino auf dem Marktplatz.
Schließlich der Zusammenfluß von rotem und weißem Main.
Der Radweg mäandert danach um den mänandernden Fluss, was bedeutet, dass die ohnehin nicht gerade Linie, auf der ich micht bewege, noch verworrener wird und sich Entfernungsabschätzungen verbieten.
Luftlinie ist nicht, wir multiplizieren besser alles mit 2. Dazu eine Weile nach Bayreuth noch unerwartete Streckenalternativen: ein Fahrradwegweiser mit der Angabe „Kulmbach 29 km“ nach links, ein weiterer „Kulmbach 19 km“ nach rechts. Kurz danach entscheide ich mich aber auf der 19-er Strecke für eine gelb für Autos ausgewiesene Variante „Kulmbach 9 km“. Danke. Der Weg ist aber nicht so immer gut ausgezeichnet, gelegentlich nur mit Fahrradsymbol, ohne Angabe von Zielorten und Entfernungen. Dabei hätte ich früh gerne schon gewusst wie weit es insgesamt beispielsweise nach Bamberg ist, um mich einzustellen.
Aber es geht und läuft gut und rund. Bis auf eine längere, aggresiv ratternde Verbundpflasterstrecke, für die der zuständige Verkehrsstaatssekretär auf einen Rüttelrost geschnallt gehört und durchgesiebt. Sei’s drum, geht auch vorbei.
Unterwegs immer mal wieder Tiere entlang der Strecke: noch’n Storch und dann ein leibhaftiger Kolkrabe, wenn es denn keine Monsterkrähe war. Irgendwo fliehen um die Mittagszeit zwei Rehe von der weiten Wiese mit gazellenartigen Sprüngen in den nächsten Unterstand. Schon seit gestern weiß ich, dass der häufigste Schmetterling am oberen Main derzeit der Schachbrettfalter ist, gefolgt von Aurora-Weibchen und vereinzelten Zitronenfaltern. Und auch heute ist es nicht anders. Am Abend läuft ein ausgewachsener Feldhase vor mir entlang des Radweges, weicht dann aber aus. Und – das nicht zu vergessen – noch eine Tierbegegnung: so manche Bank unter alten Eichen scheidet als Rastplatz aus. Warnschilder vor Prozessionsspinnern, Absperrungen mit Flatterband. Immer wieder.
In Burgkunstadt überall Werbung für große italienische Opern: Norma, Hermes, Netto, dm, kika. Ein Seitenhieb auf Bayreuth?
Und ein Langzeit-Dejavu, als ich den Baur-Versand entdecke: Als Jugendlicher war ich in unserem Dorf Sammelbesteller für Baur. Viel Geld habe ich dabei nicht verdient, ähnlich wie mit dem Austragen von 6 bis 10 Exemplaren der Bild am Sonntag. Den Baur-Katalog habe ich immer mal wieder leihweise in eine Reihe von Haushalten getragen. In unregelmäßigen Abständen wurde bestellt, per Post nach Burgkunstadt. Der Warenwert, abzüglich einer geringen Provision, wurde meinem Konto belastet, mit längeren Zahlungszielen. Die Summen wurden mit regelmäßigen Postschecküberweisungen abgestottert, die ich mit den frei vereinbarten Ratenzahlungen der Endkunden gegenfinanzieren musste. So manche Provision ging drauf als Kompensation für nicht bezahlte Raten von finanzschwachen oder auch nur unverschämten Bestellern, wogegen ich mich nur juristisch hätte verwahren können. Aber wer beauftragt mit 15 Jahren einen Rechtsanwalt gegen Nachbarn aus dem Dorf? Soviel zu Burgkunstadt, der großen Schule für das Leben. Hier ist das also.
Lichtenfels und die Pause bekommen mir und auch nicht. Ich erhole mich etwas, aber mein rechter Oberschenkel krampft plötzlich hinten. Zwei große Apfelsaftschorlen mit einer geballten Ladung Laktose oder Fruchtzucker und vielleicht auch die einsetzende Erschöpfung treiben mich aufs rettende Örtchen, knapp entkommt die Tagesettape dem vorzeitigen durchfallbedingten Ende. Bamberg rückt in weite Ferne.
17:55 Uhr, 6 km vor Bamberg
Kaum schaffe ich noch beim Absteigen, mit dem rechten ausgestreckten Bein über den Sattel zu grätschen. Ich halte kurz vor Ziel an, um mir zu ersparen, ohne Reservierung durch die Bamberger Altstadt zu streunen und nach freien Zimmern und Übernachtungspreisen zu fragen. Dafür gibt es ja eine Ähb.
Bis hierher bin ich mit einem Ritt gekommen, bei der nicht der Teufel mich, sondern ich den Teufel geritten habe. Die Schwürbitz- und Lichtenfelskrise war zwischenzeitlich wie durch ein Wunder verflogen. „Zweite Luft“ sagt man wohl oder „Nirwana“ bei gefühlten 30 Grad. Oder „auslaufen“ nach vorheriger erschöpfender Belastung. Der fahrradaffine Mensch ist ein Hamstertyp, das Rädchen muss rollen, gleich was das für den nächsten Tag bedeutet. Barfuß oder Lackschuh, Ruhetag oder noch so’n Ding. Vor morgen entscheide ich nichts. Vielleicht aber doch, dass ich mir was unter 80 km reserviere und mich nicht wieder in die gleiche Situation bringe. Denn spätestens nach Bad Staffelstein gab es nichts mehr, wo man hätte übernachten wollen. Nicht in Zapfendorf, Rattelsdorf, noch in Breitengüßbach. Wer sich auf diesem Terrain befindet kommt gerade erst aus Bamberg oder schafft es auch noch bis dorthin. Die Gasthöfe haben die Betten abgeschlagen, Tante Emma hat längst vor Netto kapituliert. Man sollte öffentliche Brunnen bohren, die Wasserversorgung ist problematisch. Man wird von wenigen knurrigen Schankwirten abhängig.
Bereits auf dem letzten Loch pfeifend, empfangen mich Universitätsstadt und Weltkurturerbe Bamberg mit Charme und Humor: ich fahre entlang der „Siechenstr.“ vorbei an der Bushaltestelle „Aussegnungshalle“ und dem inhabergeführten Geschäft „Weinessig“ in die Altstadt und erreich‘ gegen 18:25 Uhr mein Hotel „mit Müh und Not“. Nun gut, ein E.T.A.-Hoffmann-Zitat wäre in Bamberg wohl angebracht gewesen, mein Hotel liegt direkt gegenüber dem Hoffmann-Theater, aber für Frankfurter muss heute auch ein Goethe reichen.
Und er muss endlich auch mal was essen, hier in Bamberg:
Die Zahlen des Tages
Was der Tacho spricht
Tagesstrecke: 116,7 km
Fahrzeit (ohne Pausen): 6:52 Stunden
Durchschnittsgeschwindigkeit: 16,99 km/h
Maximale Geschwindigkeit: 41,51 km/h
Kalorien: 1.357