Samstag, 20. Juni 2015
Der Plan
Weiter Drau abwärts, Tagesziel offen
Wie es war, was geschah
Abfahrt aus Sachsenburg gegen 10 Uhr, völlig übermüdet. Die halbe Nacht und den Morgen seit 5 Uhr damit zugebracht, Berichte und Fotos der letzten beiden Tage aufzuarbeiten. Komme mit der Vielschreiberei, der automatischen Wortvervollständigung, dem umständlichen copy & paste, der Bildbearbeitung und überhaupt der Tastatur auf dem kleinen Bildschirm nur schlecht zurecht. Immerhin habe ich herausgefunden, dass ich verschiedene Sachen besser mit verschiedenen Tools mache: Texteingabe und -bearbeitung mit der WP-app, Fotoeingabe mit der Desktopversion im Browser. Es könnte fortan also besser laufen.
Sattel besteigen mehrmals hinausgezögert, Sitz des Gepäcks überprüft, lustlos durch den Ort geschoben. Es ist zwar hell, aber diesig und kühl, luftiger bis leichter Niesel. Es fühlt sich wie ein Hänger an. Aus Trotz dann doch 3 Stunden 15 Minuten mehr oder weniger auf einen Rutsch 59 Kilometer, gesponsert von der Firma Rückenwind und Söhne, nach Villach gewuchtet, wenn auch mit kurzen Unterbrechungen.
In Lensdorf erbost mich eine aus Unterführungen und Brücken gebastelte Laokoon-Schikane und hält meine flaue Stimmung am Leben. Nach gefühlten 1.000 Metern bin ich 10 Meter vom Beginn der Schleife entfernt, auf der anderen Seite der Bundesstraße, wo der Weg dann weiterführt ohne die Straße überquert zu haben. Sicherheit, verstehe, aber an so einem Tag braucht das kein Mensch. Geht scheißen!
In Spittal nehme ich mir vor, allenfalls vom rollenden Gerät aus ein paar Belegfotos zu machen und die Füße nicht auf den Boden zu setzen. bei der vergeblichen Suche aber auch irgendwie geeigneten Motiv verliere ich den Radweg und begebe mich über Lidl und Co. auf mehrere unfreiwillige Schleifen durch eine grautriste Stadt, die ich gar nicht sehen wollte, verblockte Wohngebiete, ein Sägewerk, Jägerzäune. Wegen dem was ich gesehen habe, hätte man Spittal nicht gründen müssen, das taugt allenfalls zu einer Städtepartnerschaft mit Crailsheim.
Es ist Samstag. Das merke ich nicht nur am vermehrten Verkehr auf dem Radweg, sondern um punkt 1200 auch am Schalldruck des Probealarms, der mich unvorbereitet von der Seite trifft und beinahe vom Deich schiebt.
Dann rollt es plötzlich doch, ich mache Kilometer um Kilometer mit einem beinahe 20er Schnitt, der Niesel wird dichter. Ich freue mich über meine fußlosen Beinlinge, die seit einer Weile mein Lieblingskleidungsstück geworden sind und wie eine zweite Haut Beine und Knie wärmen. Der Tritt wird nach 20 Kilometern rund und weich, mir schwant warum der Profiradfahrer sich vor dem Rennen stundenlang warmrollt. Mit zunehmendem Regen ziehe ich zuerst die Kapuze der Regenjacke unter den Helm und komme dann auch wieder auf die isarbewährten Gamaschen und Überhandschuhe zurück. Von einer Dame aus einer Gruppe, die ich schon mehrfach überholt und wieder vorbei gelassen habe, lasse ich mich beim Halt unter einem Baum in voller Montur für die Nachwelt ablichten.
Apropos Fahrgemeinschaften: Viele Gruppen und Einzelfahrer treffen sich zwar stundenweise einmal häufiger, man plauscht und tauscht sich aus, geht aber keine stabilen Seilschaften ein und ist um seinen eigenen Stiefel bemüht. Niemand will sich ziehen lassen oder jemand anderen mitnehmen. Die meisten wissen ganz gut was sie können und sind nicht zum ersten mal auf Tour. Ausnahme: Kleingruppen von 14- bis 18-jährigen Jungs, die weit nach vorne über den Lenker gehängt riesengroße Gänge treten und im Affenzahn den Hang hinauf vorbeiziehen. Die stehen aber meist oben und keuchen grußlos wenn unsereins vorbeikommt.
Um mir zu Zeit zu verkürzen denke ich ein wenig vor mich hin. Anfangs darüber wie es die nächsten Etappen so weiter geht. Die Tage werden sich teils wiederholen, der Reiz, eine wunderbare Landschaft zu durchfahren, wird schwächer. Das übergeordnete Ziel, die Mündung der Drau in die Donau, muss zunehmend als Motivation herhalten, ohne nachzulassen weiterzufahren. Wann genau wird es neue Herausforderungen und Aufgaben geben? Wann endet die wie ein Autopilot wirkende engmaschige Führung durch die Radwegbeschilderung? Seit Donauwörth fahre ich ohne Karte oder irgendeine morgendliche Vorbereitung auf Routen, die als Fernwanderwege angelegt sind und mir alle 300 Meter sagen wo es lang geht. Spätestens im Länderdreieck Slowenien, Ungarn, Kroatien muss ich anhand kleinmaßstäblicher Karten mir selbst einen Weg suchen und von Dorf zu Dorf Entscheidungen treffen.
Und wieder lege ich mir bei laufenden Betrieb ganze Absätze wie den vorigen für den Blog zurecht, die ich jetzt bei der Niederschrift nur noch beinahe wortgleich wieder abrufe. Das kommt meiner Neigung entgegen, direkt aus dem Geschehen heraus zu berichten oder anders gesagt so zu formulieren, als wenn etwas gerade in der Sekunde geschähe, in der es gelesen wird. Diese Art des Schreibens bezeichnet der Literaturwissenschaftler als Simultanismus und ordnet sie gerne ungarischen Schriftstellern zu wie Kostolany oder Szėp (s. „Die Liebe am Nachmittag“). Das verbinde ich derzeit nolens volens mit starken Verkürzungen und erfinde dafür während es zu schütten beginnt den Begriff Android-Stil – keinen verdammten Buchstaben mehr als man zwingend auf diesem Screen tippen muss!: „Gegessen. geschmeckt.“ Alles gesagt, Rest Kontext.
Wo ich schon dabei bin und immer bessere Laune bekomme – der richtige Bub jammert eben nicht über den Regen, sondern fährt mit Wolllust mitten durch die Pfützen und Schlammlöcher! – lege ich aus jeweils gegebenem Anlass noch ein paar Lehrsätze für die Radschulfibel drauf, die ich für die „Satteltasche“ vorsichtshalber auf mein Smartphone diktiere. Den Lehrsatz „nasser Lehm“ habe ich sinnigerweise schon parat BEVOR ich an einer besonders seifigen Stelle plötzlich nur noch einen ein Meter breiten abschüssigen und glatt gemähten Grasstreifen entfernt von den türkisfarbenen Fluten der Drau navigiere. Der zweite zum Thema „hochspritzender Dreck“ kommt mir als der orangerote Überzug meiner Sachentasche zunehmend den Habitus eines Fliegenpilzes annimmt.
Auch alles andere ist anders als aus dem Ei gepellt, ich beginne mal wieder zu verschlammen.
Da ich in Villach unbedingt eine Pause machen und heiße Suppe haben will, mir aber nicht vorstellen kann, mich aus den klammen Klamotten zu schälen und anschließend wieder hinein zu werfen, mir urplötzlich eine warme Dusche und ein Fernseh- und Blogschreibnachmittag als Maß aller Dinge erscheint, breche ich ab und nehme spontan und etwas überteuert für 68 ÜF Quartier im alteingesessen plüschigen Hotel Mosser. Suppe gegessen, jetzt Sonne. Blog geschrieben, jetzt Stadt. Bericht morgen, heute Fußball. Fotos, mal sehn.
So ist aus einem brummeligen, vermurrten Tag doch noch ein Schwänchen geworden. Und anderen ging es schlechter. In der Stadt endete ein Amateurradrennen. Zwei Mitfahrer stehen zitternd in Wärmefolien gehüllt an der Rezeption und jammern über das Rennen, das über zwei knackige Alpenpässe von Kärnten nach Kranjska Gora in Slowenien und zurück ging. Auf dem Wurzenpass hat es gehagelt. Aber wie gesagt: Rennen vorbei, jetzt Sonne.
Die Zahlen
Tageskilometer: 59
Gesamtkilometer: 753
Fahrzeit heute: 3 Stunden 15 Minuten