Montag, 15. Juni 2015
Der Plan
Mit dem Zug von Augsburg nach München Hbf, durch die Stadt zur Isar, auf dem Isar-Radweg nach Lenggries. Fahrradstrecke davon etwa 70 km.
Wie es war, was geschah
Es regnet am Morgen immer noch, aber weniger. Ich komme in Augsburg erst mit dem Zug um 12.06 Uhr weg, weil sich die Affäre Ladegerät schwierig gestaltet. Es stellt sich heraus, dass kein Standardgerät passt und ein Originalteil bestellt werden müsste. Dazu musste ich von 9.30 bis 11 Uhr in mehrere Mobilshops, ein Computerhaus und zu Saturn. Nix. Eine Elektrogebrauchtklitsche hat zwar auch nichts, aber ich wechsele die Strategie und denke laut darüber nach, mir ein zweites Tablet zu kaufen, um aus der Klemme herauszukommen. Keine Ahnung wie diese spontane Idee und der Warenbestand des Ladens zueinander gefunden haben, aber gegen 11.15 Uhr bin ich für 90 Euro in bar noch nicht wirklich stolzer Besitzer einen Acer-Tablets, das meinem saftlosen recht ähnlich ist, dafür aber ein Ladegerät bei sich führt. Die Entscheidung pro fällt als mir klar wird, dass ich die wichtigsten Daten auf einer Mikro-SD-Karte habe und auch ohne dass die alte Kiste läuft auf das neue Gerät schaffen kann. Dass dieses keinen USB-Anschluss hat und ich die Kamera nicht mehr direkt anschließen kann, lasse ich im Moment außen vor. Kommt Zeit, kommt Rat. Und es gibt keine Alternative.
In einer kurzen Sitzung in der JH richte ich auf dem neuen Gerät mein Datenkrakenkonto ein und bringe die ersten Apps zum Laufen. Blöd nur, dass plötzlich die automatische Bildschirmdrehung nicht mehr geht und man bestimmte Webseiten nicht gut lesen kann. Ist das Teil defekt? In Sportklamotten und mit Gepäck behangenem Rad zurück in den Laden, der Mann ist ratlos, bis auf den vergeblichen Versuch einer Systemwiederherstellung, bei der dann alle Konten und installierten Apps wieder gelöscht werden. Derweil wird es auch für den Zug um 12.06 Uhr schon knapp. Behelmt und genervt warte ich noch eine google-Suche ab: ‚acer android bildschirm drehen“. Es ist so einfach: es gibt einen kleinen Schiebehebel, der die Funktion mechanisch unterdrückt. Alles wird gut, ich fliege zum Bahnhof.
Wer denkt, dass so viel Aufregung und Generve für einen ganzen Tag reichen, sich gerne die Frage stellt, ‚warum mache ich das alles?‘, nicht sich am Leiden und Verzweifeln aufrichtig erfreuen kann, kurz wer ein Weichei ist, liest hier besser nicht weiter und klickt sich nach Tag 6, „Pausentag in Lenggries“.
Alle anderen radeln dann aber bitte mit mir auch noch den zweiten Teil des Tages.
Der sieht mich und München gegen 13 Uhr im strömenden Dauerregen. Ich stehe erst einmal eine Weile ratlos unter dem Vordach des Hauptbahnhofs und sortiere mit dem Gedanken, dass sich jetzt die so wohl durchdachte Ausrüstung eben bewähren müsse, Regenjacke, wasserdichte Gamaschen und Überhandschuhe sowie wärmende Beinlinge prophylaktisch nach oben. Sicher ist sicher. Um die Zeit etwas zu überbrücken schiebe ich in Richtung Stachus und kaufe unterwegs eine Backfischsemmel. Die hält aber weder ewig noch den Regen auf. Am Stachus ist dann gewiss, dass der Kelch nicht vorbeizieht, ich lege die Unterwasserausrüstung an. Parallel zur Kaufinger Straße – „Ja, zur Isar geht’s grad aus, aber Radl kenna’s da herinna ned fahr’n, gell?“ – suche ich mir einen Fahrweg Richtung Fluss und mache eine Stadtbesichtigung, die heute vollkommen ungelegen kommt: Frauenkirche, Dallmeyer, Hofbräuhaus, Staatsoper, Maximilianstraße, Landtag. Unterwegs erkläre ich noch einem Amerikaner wo der Marienplatz ist, verkneife mir aber hinzuzufügen, dass man dort nicht Radfahren kann.
Es wird so allmählich 14 Uhr als ich auf Höhe Landtag am Fluß zum ersten Mal an diesem Tag das Zeichen des Isar-Radwegs sehe. Der führt aber in meiner Richtung den Radwanderer erst einmal zum Marienplatz, zum Hofbräuhaus, zur Frauenkirche, zur Staatsoper….
Fluchen und Lamentieren wird der Rest meines Tages sein. Ich gebe mir die Sporen und rolle Freistil im Regen dann halt auf irgendeinem Radweg gen Süden. Einfach sehen wie es ist und wie weit es eben geht. 14.30 Uhr und noch keine 10 km auf dem Tacho, inklusive Augsburg. Lenggries irgendwo 60 km voraus. Der Tacho steht plötzlich auf Null und verweigert die Dokumentation meiner Anstrengungen. Das halte ich nicht aus, springe unter einer Brücke ab, packe den Geldbeutel und eine Münze aus, drehe die Batterie raus, setze sie wieder ein und fahre bei Kilometer 0, Dialogsprache jetzt englisch, wieder in den Regen hinein. Aber wenigstens geht das Drecksteil wieder und kennt noch meinen Radumfang und weiß, dass ich Kilometer und keine Meilen fahre und zähle.
Jetzt aber mal rein in die Eisen und damit voll im die Scheiße. Bereits im Stadtgebiet München waren nicht mehr alle Uferwege geteert, aber kaum 20 Minuten aus der City raus finde ich mich irgendwie wie am Klondyke. Rechts der reißende Strom, lehmgelb, links eine 40-50 Meter fast senkrecht aufragende schlammig bewaldete Böschung, oben ein wolkenverhangener, fast dunkler Himmel. Unter den Reifen ein Weg, der jeder Beschreibung spottet: Kies, nasses Laub, Wurzeln, Steigungen am Hang, Abfahrten. Auch heute muss ich ein paar mal aus dem Sattel springen, ich habe aber Übung und nennen mein nächstes Buch „Rutschgefahr an Lech und Isar“.
Gelacht, 15 Uhr und mehr, es geht nicht vorwärts, Lenggries, gibt es das wirklich? Ich stecke beinahe fest, mitten in den verpissten Isarauen. Kann ich in hier in der Wildnis übernachten, gibt’s hier Handy-Netz? Den Regen lasse ich jetzt einmal unerwähnt, auch weil es wirklich Spannenderes gibt: beispielsweise ein quer liegender meterdicker Baumstamm, geziert von rot-weißen Bändern und einem Schild: „Durchfahrt verboten. Steinschlaggefahr. Eigene Gefahr….“. Links im Steilhang allenfalls Gemsenpfade, die mit dem Lastfahrrad nicht zu machen sind, rechts die Isar, vor mir KEINE Umleitungsempfehlung, hinter mir München.
No way, my Liaba, nicht mir mir, da werd‘ ich g’rad wild und wuchte das Güterfahrrad über die glitschige Barrikade, durchfahre knapp 2 Kilometer die Gefahrenzone, überwinde die Sperrung auf der Gegenseite und treffe nach 1 Kilometer auf die nächste Barrikade. Oha! Dazwischen war kein Abzweig, es gibt also einen nicht gesperrte Strecke, auf die man nur kommt wenn man die gesperrte absolviert hat. Raffiniert. Ich ignoriere auch diese Sperrung, natürlich. Lenggries, auf nach Lenggries, der Lenggries rush hat mich gepackt!
Nach einer Weile – wer hat an der Uhr gedreht? – unerwartet eine flachere und breitere Streckenführung, Schotter, Einmündung auf eine stark befahrene Autostraße, es geht sowohl links als auch rechts – sagen die Schilder – weiter nach Wolfratshaus, ich schlage mich schiebend und nach wie vor im Regen steil die Autostraße hoch nach Grünwald (ist das nicht eigentlich noch München?). Oben beschließe ich, die neonquietsche Warnweste anzuziehen und ab sofort stoisch der Autostraße nach Bad Tölz zu folgen. Heute keine Abenteuer mehr direkt am Fluss. Oder eben doch. Von der Straße rät ein Mann mit Gärtnerhut dringend ab – „Das ist nur Scheiße!“ – und verspricht ab hier und sofort einen ebenen und ASPHALTIERTEN Weg unten an der Isar (s.a. „Satteltasche“). Den gibt es dann auch bis kurz vor Wolfratshausen, ich trete zum ersten Mal an diesem Tag kräftig in die Pedale, sehe 30 jetzt dann doch endlich gefahrene Kilometer auf dem Tacho, aber noch lange nicht Lenggries vor mir.
Denn dieses war dann auch das letzte geteerte Stück für heute direkt an der Isar, bald befinde ich doch wieder auf Wegen wie im Frankfurter Stadtwald, Pfützen, Wellen, Wurzeln. Überhaupt sehe ich schon aus wie ein Schlammringer. Welche Wirtin wird mich so noch nehmen? Bei der nächsten Gelegenheit büchse ich aus und frage wieder nach einer Autostraße nach Tölz, die ich dann auch bei Königsdorf erreiche. Die führt aber nicht am Fluss lang, sondern schneidet quer einen Bergrücken, um den sich unten die Isar schlängelt. Auf dieser Straße genieße ich nun von Hof zu Hof und in Schlangenlinien den Hang eine Stunde auf und ab fahrend, schiebend, rollend die Bergwertung des Tages. Der Regen hört auf, um während einer Rast gleich wieder anzufangen. Tölz noch 9, noch eine Steigung, noch 7, ich zähle rückwärts, überlege wie weit es wohl von Tölz nach Lenggries noch sein könnte, es geht auf 18 Uhr, und lege mich, weil ich etwas forsch die nasse Straße hinuntergerollt bin, bei einem übervorsichtigen und ängstlichen Bremsversuch beinahe quer auf die Fahrbahn. Ich stelle fest, das Gepäck zieht.
Langsam reinrollen nach Bad Tölz – ist das wirklich wahr? Ja, aber unspektakulär, weil grau und verregnet. Aber wenigstens ist keine Eile mehr. Es sind nur wenig mehr als10 Kilometer. Es gibt einen Radweg, aber der ist natürlich asphaltiert. Das ist mir egal, ich fahre Sparflamme und erreiche in 9, 8, 7, 6, 5 …. Kilometern gegen 19 Uhr den Lenggrieser Hof. Fertig mit Tablet, Backfischsemmeln, Steinschlägen, glitschigen Waldwegen und auf Almen scheißendem Fleckvieh. Fertig mit der Welt.
(Anmerkung: für Blogbeiträge dieser Länge gibt es hoffentlich keinen weiteren Anlass. Aber es musste einfach mal raus… Und dass heute nicht viel fotografiert worden ist, versteht jeder, der schon einmal durch einen Steinschlag geradelt ist ….)
Zahlen
Tageskilometer: 73,26
Gesamtkilometer: 423,63