Samstag, 13. Juni 2015
Der Plan
Blaufelden nach Nördlingen, ca. 95 km
Wie es war, was geschah
Crailsheim, 11 Uhr
Heute wieder alles ganz anders, bis jetzt jedenfalls.
Nach ausgiebigem Frühstück, um Frustrationen wie gestern zu vermeiden, schnurstracks auf die gut befahrene, aber doch eher ungefährliche B290 von Ellwangen nach Crailsheim. Dort nach 24 km angekommen und Cappuccino. Auch das Wetter und vor allem die Landschaft sind anders als im Odenwald. Nur seichte Anstiege, laue Temperaturen, der Himmel bedeckt. Ein frischer halber Westwind nimmt mich von der Seite mit in Richtung Jagst, ab jetzt Jagst-Radweg Richtung Ellwangen. So kann es weiter gehen, so bleibt das avisierte Tagesziel, Nördlingen in Bayern, denkbar.
Ellwangen, 13.30 Uhr
Die letzte Bemerkung in Crailsheim muss dem Frust über den gestrigen Tag entsprungen sein, nach zwei Stunden über den Jagsttalradweg bin ich noch einigermaßen frisch, es ist jetzt nur eine Frage der verbleibenden Entfernung und des Geländes, ob ich in Nördlingen ankomme oder nicht. Bis jetzt wenig fotografiert, wobei man wegen Crailsheim das Fotografieren auch nicht unbedingt hätte erfinden müssen.
Nettes Geplauder bei Nieselregen mit einem E-Bike fahrenden älteren Ehepaar aus der Würzburger Gegend unter dem Vordach eines Super- oder Getränkemarkts am Rande von Ellwangen. „Sind Sie immer mit dem Fahrrad unterwegs, das ganze Jahr?“
In einem Fahrradladen hole ich mir Tipps für die Weiterfahrt nach Nördlingen und nehme abweichend von meiner Planung eine durchgehende Landstraße, nördlich entlang der in der Entfernung teils ganz ordentlich aufragenden Hügel der europäischen Wasserscheide. Dahinter fließt alles in Richtung Donau und dann ins schwarze Meer, auf meiner Seite alles in Richtung Rhein und Nordsee.
Die Straße aus Ellwangen heraus bleibt der letzte und einzige nennenswerte Anstieg an diesem Tag- Ich schiebe vorsichtshalber und trete oben auch die nächsten 30 Kilometer nur leicht in die Pedale, unterstützt von einem flotten Rückenwind, den das angekündigte, aber ausbleibende Unwetter über Süddeutschland schickt. Ich zähle Kilometer rückwärts bis in der Entfernung bereits die legendäre Silhouette von Nördlingen zu sehen ist. Halleluja.
Kurz vor Einfahrt in die Stadt verkündet weithin sichtbar ein wirklich riesen Riesenrad nichts Gutes für die Zimmersuche. Ausgerechnet hier habe ich nicht reserviert. Hinter dem Baldinger Tor der Goldene Löwe und der Rote Ochse. „Nichts mehr frei“, weder im Löwen noch im Ochsen, doch Heinz, der ganz offensichtlich in die regierende Wirtinnen-Dynastie des Löwen eingeheiratet hat und im nachmittags verschlafenen Gasthaus zusammen mit Kumpels die Zeit totschlägt, lässt den von so weither mit dem Rad gekommenen „jungen Mann“ nicht einfach so und mit dieser abschlägigen Auskunft versehen wieder gehen: „Ich find‘ Ihnen was. S’werdd nedd einfach sein, es ist Messe, aber es muss doch ein Zimmer geben.“
Er führt mehrere Gespräche mit Hotels, die alle mit Absagen enden, unterbrochen von langen schweigsamen Pausen, in denen er mit stoischer Ruhe im Beherbergungsverzeichnis – „Ich missd a’maal a paar neuje hole“ – blättert und auch einen Mann am Tisch bittet, eine Nummer aus dem Telefonbuch zu suchen, was aber nicht so einfach ist, da in Nördlingen das Alphabet vielleicht anders geht. Heinz telefoniert freisprechend, sein iPhone liegt vor ihm auf dem Tisch. Er spricht ein hartes Zeitlupenalbschwäbisch: „Haa-loo …. Duuu…. Eee-ri-gga ……heeerst Du miii?…. Kannst mich heeeeere? Ja? …. Also. Eeeri-gga, i bins‘, dr Hoins. Heerst mi, gell?…. Also, do is a Herr, woo ...“
Heinz schafft es, er bringt mich privat unter. Ich war von einem Zimmer ausgegangen, residiere aber derzeit in der Einliegerwohnung von Erika M. in der Bozener Straße im „Südtiroler Viertel“ von Nördlingen, außerhalb der Stadtmauer, jenseits des Friedhofs: großes Schlafzimmer, kleines Schlafzimmer, – „Sie haben die Auswahl.„- Wohnzimmer, Küche, Bad. Vorkasse versteht sich: „Dann bekomme ich noch 45 Euro von Ihnen. Sie haben den Schlüssel, ich komme nicht mehr runter.“
Am Abend zu einer Pizza in der Stadt ein Weißbier, dann eine Runde über die Nördlinger „Messe“. Es ist auch um 20 Uhr noch unerträglich heiß, zudem extrem laut. Schon von weitem kreischende Mädchen oder laut abgespielte Tonbandaufnahmen von kreischenden Mädchen aus Fahrgeschäften jeder Art, beim Überschlag, beim quer Gewirbeltwerden, rückwärts, vorwärts, oben, unten. Das sportplatzgroße Bierzelt noch heißer, noch lauter. Maßkrüge. Eine multikulturelle Blas-, Hupf- und Singkapelle singt von jeder Art von Heimat: Bodensee, Tirol. „Ein Prosit.“ – „Auf geht’s! Gemma.“
An den Tischen vor allem die 14-bis 18-jährigen Mädchen mehrheitlich in Dirndln, pickelige Streuselkuchen mit wenig Holz vor der Tür. Ich nehme ein Weißbier im Stehen und fotografiere in die Menge, künstlich-gewollte natürlich-urige Szenen. Das hier ist Komasaufen im Eventformat, kein Volksfest.
Abgang, noch einmal in den Löwen, ich hatte Heinz in Aussicht gestellt, noch einmal vorbei zu kommen. Zwei Helle, keine neuen Erkenntnisse. Außer vielleicht, dass Heinz eventuell doch der Wirt ist und die weißgekittelte Dame mit starrem Blick auf den Boden nur die eingeheiratete Ehefrau. Dafür spricht eine jetzt anwesende zweite und deutlich ältere Kitteldame, die sofort als Platzhirschin zu erkennen ist und die als Mutter eher auf den Heinz hinauskommt als auf die andere Dame.
Abgang die zweite, heim in die Einliegerwohnung. Jogis Buben schlagen Malta 7:0. Gute Nacht.
Zahlen
Tageskilometer: 93,84 km
Gesamtkilometer: 262,78 km
Fahrzeit heute: 9.30 bis 16.30 Uhr