Unterwegs
Tag 7 – Von Lenggries nach Mühlbach/Pustertal
Mittwoch, 17. Juni 2015
Der Plan
50 km mit dem Rad von Lenggries nach Mittenwald, Bahn nach Innsbruck, S-Bahn auf den Brenner, Rad soweit die Füße tragen in Richtung Süden
Wie es war, was geschah
„Der große Sprung“, der Tag der bisherigen Tage, die größte Mogelpackung, was das Sportliche angeht, aber mit grandiosen Erlebnissen. Angekommen südlich der Alpen, die Drauquellen in Schlagweite. Ein Tag gut für 3 Tage, an dem es abends schwer fällt, sich noch im Detail an die ersten beiden Teile zu erinnern. Hier der Versuch (Fotos in einem zweiten, separaten Beitrag, da das Einfügen in den Text nervt und Formatierungsprobleme verursacht):
Lenggries – Mittenwald
Abfahrt 7.50 Uhr, nach einem Frühstück unter südtiroler und salzburger Montagearbeitern, die weit voneinander sitzen und kein Wort miteinander reden. Die Tiroler schalten demonstrativ auf gutturales Italienisch. Fahrrad mit Handfeger von den Relikten Grünwalder und Tölzer Schlamms befreit. Es ist frisch, ich lege die Beinlinge und einen Überwurf an.
Der Weg geht entlang der Isar, ein paar Meter über Split, schnell aber auf eine asphaltierte Piste parallel zu einer Autostraße. Fast immer auf Flussniveau. Es ist alles etwas verhangen, erst zu Mittag wird es in Mittenwald zum ersten Mal richtig sonnig sein. Immer wieder Blicke auf ein engeres, mal breiteres, völlig planes Kiesflussbett, in dem sich die Isar je nach Wasserstand und Jahreszeit einen immer neuen Weg sucht. Die angrenzenden Berge mal nah, mal weiter, mal steiler, mal flacher. Die Felsgipfel des Werdenfelser Landes sind zu erahnen, aber nie zu sehen. Meine weitere Route einschließlich der Bahnfahrt wird mich stundenlang um die Zugspitze führen, die ich aber nicht einmal zu sehen kriegen werde. Links und rechts Wiesen und lichte Fichtenwälder, brusthohes tropfnasses Gras, viele auffällige Blüten, gelb, purpur, rosa, von denen ich die Namen der Pflanzen gerne wüsste.
Nach einem größeren Stausee (Sylvensteinsee) ist die reguläre Autostraße bei Vorderriss zu Ende, es gibt nur noch eine einspurige Mautstraße, auf der wenig Verkehr ist und die von mir und vor allem von Menschen mit Leihrädern – „Euro bike“ – befahren wird. Vor mir plötzlich eine penibelst gemähte Wiese ohne Fleckvieh und Kuhdung, aber mit Fähnchen und Caddies. Das mir neue magische Wort heißt Almengolf. Und ich bin in Wallgau angelangt, das mir einen sehr noblen Eindruck macht. Ab jetzt wird es auch voll touristisch, immer pittoresker.
In Wallgau entledige ich mich einer Altlast und schicke mein altes Tablet mit der Post auf die Heimreise. Nach weiteren 30 Minuten grüßt Mittenwald zunächst wenig spektakulär mit Bundeswehrwohnblöcken und einer humorlos begradigten Isar. Erst in der Dorfmitte lässt es die Hüllen fallen und zeugt seine touristischen Reize: gemalte Häuser und jetzt vor allem Sonne und noch mal Sonne, die aber die Wolken um die Zugspitze immer noch nicht vertreibt. Außerdem ist Mittenwald eine Art Freiluft-Alten-und-Pflegeheim passenderweise mit einer Filiale der Drogerie Müller, die mich mit Schokolade und frischem Trinkwasser versorgt. Ich bin nicht sicher, ob man hier U80 überhaupt (überhaubt?) schon legal existenzberechtigt ist. Aber ich bin angetan und froh zu wissen, wo man später mal hin kann.
Kurz spiele ich mit dem Gedanken, mich nun doch mit dem Rad die nur noch wenigen Kilometer nach Leutasch hochzuquälen und damit eine Bergquerung komplett ohne Hilfsmittel zu absolvieren. Aber die Konsequenz wäre entweder den berüchtigten Zirler Berg nach Innsbruck hinab fahren oder über Telfs einen Umweg von 30 km durch das Inntal in Kauf nehmen zu müssen. Aber ich bin so auf das Tagesziel Südtirol fixiert, dass ich die Idee verwerfe und mich zum Bahnhof begebe.
Bahnfahrten von Mittenwald zum Brennerpass
Spektakulär geht es los, hoch in Richtung Seefeld, wo die Bahn links um die Zugspitze ziehend bei Oberzirl den höchsten Punkt der Strecke nach Innsbruck erreicht und langsam wieder ins Inntal absteigt. Ab hier wird mir ziemlich blümerant und rührselig. Mich holen Stolz und Verwunderung ein, dass ich es mit dem Rad und ein wenig Unterstützung der Bahn schon einmal bis hierher geschafft habe: an Orte und Panoramen, die ich Dutzende Male aus dem Auto gesehen habe, die aber auch fest mit einer Autoreise verbunden sind. Aus dem Zug sehe ich wie aus dem Flugzeug unter mir das breite Inntal, den Innsbrucker Flughafen, den Bergisel, die Sprungschanze, weiß auch wo trotz der Wolken die Stubaier sind, die Serlesspitze – einer meiner Lieblingshinguckberge seit Skiferien in Steinach am Brenner, mit Himalaya-Franzl als Skilehrer – wo es hinauf zum Brenner geht. Ich sitze im Zug und bin überwältigt. Und mir ist plötzlich völlig egal, dass ich nur im Zug sitze, statt zu radeln. Völlig. Ich kann mich mal.
In Innsbruck nur kurzer Aufenthalt auf dem Hauptbahnhof, Bahnsteigwechsel, die S-Bahn kommt aus Hall und fährt bis zum Grenzbahnhof Brenner/Brennero. Sie ist auf ihrem Weg nach Patsch, unter der Europabrücke hindurch, weiter nach Matrei, Steinach und Gries voll von Schülerinnen auf dem Heimweg in die Dörfer. Unterwegs bilde ich mir ein, kurz die Serles gesehen zu haben, bin aber nicht sicher. Sicher bin ich mir aber bei der Skiwiese oberhalb Steinach, auf der mich einmal in den frühen achtziger Jahren zu meiner Verärgerung ein Holländer namens Fred, der eigentlich ein eher grobschlächtiger und plumper Skifahrer war, auf dem letzten Meter abgehängt hat, nur weil er 110 Kilo wog. Zu der Zeit dieser Schande meines Lebens maß ich noch zarte 70.
Ankunft Brenner, die Atmosphäre da oben wie schon immer die letzten 50 Jahre: alles schmuddelig, geschäftig, unterkühlt. Früher war das eine Staats-, Sprach-, Zoll- und Währungsgrenze, davon zeugen all die Gebäude und Reste von Kontrollstellen, Blechverschläge, Leitplanken. Was es heute offiziell ist, weiß ich nicht wirklich, doch mich überkommt eine Ahnung. Trotz niedriger Temperaturen halten sich in allen möglichen Ecken und Unterführungen auffällig viele unauffällige Afrikaner auf und laufen Gruppen italienischer Polizisten umso auffälliger herum. Noch ist das eine Grenze, zumindest für manche.
Brenner bis Mühlbach im Pustertal
Wieder auf dem Rad, zunächst mit warmer Jacke und Überhandschuhen. Strammer Wind, zumeist von hinten, die Grashalme biegen sich flatternd. Die Sonne wird immer kräftiger, wir sind in Italien. Oder doch genauer SÜDTIROL. Man riecht und fühlt es zunehmend. Eine alte Eisenbahntrasse führt mich nach Sterzing. Gelegentlich geht es doch auf die Staatsstraße, die aber an diesem Tag nur sehr schwach befahren ist und den Vorteil hat, dass sie grundsätzlich immer bergab geht und auch oft einen abgemalten ein Meter breiten Seitenstreifen. Nach Sterzing verzichte ich später ganz auf den Radweg, der Umwege in Seitentäler macht und ständig giftig durch Einzelgehöfte und kleine Dörfer am Hang auf und ab führt.
Kurz vor Sterzing bin ich aber schon so relaxt, dass ich mir angesichts einer Fahrahrradwerkstatt die Zeit nehme, endlich meinen defekten Flaschenhalter auszutauschen. In Sterzing selbst ist mir dann alles Mortadella, wie weit ich noch kommen will, dass ich nur auf der Durchreise bin. Ich schalte auf schwarzwälder Kirschtorte und Cappuccino. Zum ersten Mal auf dieser Reise sitze ich in der Sonne, ohne Hummeln im Hintern und das Gefühl, dass ich gehetzt gleich weiter muss oder will. Gerne würde ich in Lire bezahlen. Die warme Kleidung ist für den Rest des Tages hinfällig.
Die weitere Fahrt nach Mühlbach über Franzensfeste ist nach dann doch über 90 km im Sattel – trotz Bahn! – ein wenig mühsam, aber ich werde immer wieder von vertrauten Anblicken verzaubert und ermuntert: Plose, Gitschberg, darüber Meransen am Hang, ein wenig Schlern, eine nicht zuordenbare Dolomitenspitze. Schließlich die schon verlogen kitschige Einfahrt über einen Waldweg von oberhalb ins voll in der Sonne liegende Mühlbach. Auf dem Rathausplatz heißt das eine von zwei Hotels „Seppi“. Ein Blick, eine Frage, genau das ist es, das passt, auch der Wirt. Es sieht aus wie in jedem beliebigen Südtiroler Dorfgasthaus, es gibt Forstbier, aber genau deswegen fahren manche Menschen ja jedes Jahr und immer wieder hierher. So wollte ich das, so soll es sein.
Bei vorzüglichem Lagreiner, einem Salat und einer Portion Schlutzer mit ordentlich brauner Butter sitze ich noch lange vor dem Hotel auf dem Platz und lasse mich baumeln. Auf dem Zimmer kaue ich bei einem völlig unbedeutenden U21-Länderspiel noch die komplette 350-Gramm-Packung Tiroler Speck weg, die ich unterwegs in einem schicken Schinken-Outlet vorsorglich gekauft hatte. Die Fahrt zehrt, der Körper verlangt Futter.
Morgen sehe ich, wie sich der ausgewiesene Radweg das Pustertal aufwärts bis Toblach/Innichen gestaltet, wie weit in komme, wie weit ich mich quälen mag, ob eventuell auch hier die reguläre Straße eine Alternative ist, ob ich eine weitere Übernachtung auf diesem Teilstück mache oder noch einmal die Bahn beanspruchen muss. Nach dem Frühstück geht’s los, wir werden sehen.
Zahlen
Tageskilometer: 95 echte Kilometer mit dem Rad + 2 Stunden Bahn + ein kurzer Bahnsteigwechsel in Innsbruck
Gesamtkilometer: 518,63 km
Tag 7 – Die Fotos zum Bericht vom Tage
Tag 6 – Lengries (Ruhetag)
Dienstag, 16. Juni 2015
Wie es war, was geschah
Gestern beschlossen, bei Aussicht auf schlechtes Wetter auf keinen Fall weiterzufahren und es mir in meinem Zimmer gut gehen zu lassen. Das Haus riecht ein bisschen wie Altreier Hof, die Insider wissen was ich meine, das hat es leicht gemacht.
Ein paar Spaziergänge durch das wolkenverhangene Dorf, dabei mit etwas Schokolade für die Angestellten in einer Fotohandlung das Tablet-Problem final gelöst: habe die Bilder von einer SD auf eine Mikro-SD-Karte umkopieren lassen, die ich fortan mit Adapter in der Kamera und ohne auf dem Tablet benutzen kann. Alles ist gut. Nette Pläusche hier und da, Weißwurst zu Mittag. Ansonstent stundenlang home office und den Blog für die letzten Tage nachgearbeitet. Nervig, WP läuft nicht gerade rund auf dieser Maschine.
Pläne für morgen gefasst: nach einer kurzen Fotorunde durch das Dorf bei hoffentlich weniger Wolken und mehr Bergen 50 km nach Mittenwald mit dem Rad, möglichst früh und dort direkt weiter mit dem Zug nach Innsbruck. Dort in die nächste Bahn auf den Brenner und mit dem Rad runter nach Italien soweit ich an diesem Tag kommen kann und will. Der vorgesehene Ruhetag in Innsbruck entfällt ersatzlos. Pause war heute und ich will in keine Großstadt mehr rein.
Packe und lege vor dem Abendessen alles zurecht, freue mich, dass es jetzt zügig an den Kern der Sache geht. Könnte in 3 Tagen an der Drau sein.
Ein paar Bilder vom Tage:
Tag 5 – Von (Augsburg) München nach Lenggries
Montag, 15. Juni 2015
Der Plan
Mit dem Zug von Augsburg nach München Hbf, durch die Stadt zur Isar, auf dem Isar-Radweg nach Lenggries. Fahrradstrecke davon etwa 70 km.
Wie es war, was geschah
Es regnet am Morgen immer noch, aber weniger. Ich komme in Augsburg erst mit dem Zug um 12.06 Uhr weg, weil sich die Affäre Ladegerät schwierig gestaltet. Es stellt sich heraus, dass kein Standardgerät passt und ein Originalteil bestellt werden müsste. Dazu musste ich von 9.30 bis 11 Uhr in mehrere Mobilshops, ein Computerhaus und zu Saturn. Nix. Eine Elektrogebrauchtklitsche hat zwar auch nichts, aber ich wechsele die Strategie und denke laut darüber nach, mir ein zweites Tablet zu kaufen, um aus der Klemme herauszukommen. Keine Ahnung wie diese spontane Idee und der Warenbestand des Ladens zueinander gefunden haben, aber gegen 11.15 Uhr bin ich für 90 Euro in bar noch nicht wirklich stolzer Besitzer einen Acer-Tablets, das meinem saftlosen recht ähnlich ist, dafür aber ein Ladegerät bei sich führt. Die Entscheidung pro fällt als mir klar wird, dass ich die wichtigsten Daten auf einer Mikro-SD-Karte habe und auch ohne dass die alte Kiste läuft auf das neue Gerät schaffen kann. Dass dieses keinen USB-Anschluss hat und ich die Kamera nicht mehr direkt anschließen kann, lasse ich im Moment außen vor. Kommt Zeit, kommt Rat. Und es gibt keine Alternative.
In einer kurzen Sitzung in der JH richte ich auf dem neuen Gerät mein Datenkrakenkonto ein und bringe die ersten Apps zum Laufen. Blöd nur, dass plötzlich die automatische Bildschirmdrehung nicht mehr geht und man bestimmte Webseiten nicht gut lesen kann. Ist das Teil defekt? In Sportklamotten und mit Gepäck behangenem Rad zurück in den Laden, der Mann ist ratlos, bis auf den vergeblichen Versuch einer Systemwiederherstellung, bei der dann alle Konten und installierten Apps wieder gelöscht werden. Derweil wird es auch für den Zug um 12.06 Uhr schon knapp. Behelmt und genervt warte ich noch eine google-Suche ab: ‚acer android bildschirm drehen“. Es ist so einfach: es gibt einen kleinen Schiebehebel, der die Funktion mechanisch unterdrückt. Alles wird gut, ich fliege zum Bahnhof.
Wer denkt, dass so viel Aufregung und Generve für einen ganzen Tag reichen, sich gerne die Frage stellt, ‚warum mache ich das alles?‘, nicht sich am Leiden und Verzweifeln aufrichtig erfreuen kann, kurz wer ein Weichei ist, liest hier besser nicht weiter und klickt sich nach Tag 6, „Pausentag in Lenggries“.
Alle anderen radeln dann aber bitte mit mir auch noch den zweiten Teil des Tages.
Der sieht mich und München gegen 13 Uhr im strömenden Dauerregen. Ich stehe erst einmal eine Weile ratlos unter dem Vordach des Hauptbahnhofs und sortiere mit dem Gedanken, dass sich jetzt die so wohl durchdachte Ausrüstung eben bewähren müsse, Regenjacke, wasserdichte Gamaschen und Überhandschuhe sowie wärmende Beinlinge prophylaktisch nach oben. Sicher ist sicher. Um die Zeit etwas zu überbrücken schiebe ich in Richtung Stachus und kaufe unterwegs eine Backfischsemmel. Die hält aber weder ewig noch den Regen auf. Am Stachus ist dann gewiss, dass der Kelch nicht vorbeizieht, ich lege die Unterwasserausrüstung an. Parallel zur Kaufinger Straße – „Ja, zur Isar geht’s grad aus, aber Radl kenna’s da herinna ned fahr’n, gell?“ – suche ich mir einen Fahrweg Richtung Fluss und mache eine Stadtbesichtigung, die heute vollkommen ungelegen kommt: Frauenkirche, Dallmeyer, Hofbräuhaus, Staatsoper, Maximilianstraße, Landtag. Unterwegs erkläre ich noch einem Amerikaner wo der Marienplatz ist, verkneife mir aber hinzuzufügen, dass man dort nicht Radfahren kann.
Es wird so allmählich 14 Uhr als ich auf Höhe Landtag am Fluß zum ersten Mal an diesem Tag das Zeichen des Isar-Radwegs sehe. Der führt aber in meiner Richtung den Radwanderer erst einmal zum Marienplatz, zum Hofbräuhaus, zur Frauenkirche, zur Staatsoper….
Fluchen und Lamentieren wird der Rest meines Tages sein. Ich gebe mir die Sporen und rolle Freistil im Regen dann halt auf irgendeinem Radweg gen Süden. Einfach sehen wie es ist und wie weit es eben geht. 14.30 Uhr und noch keine 10 km auf dem Tacho, inklusive Augsburg. Lenggries irgendwo 60 km voraus. Der Tacho steht plötzlich auf Null und verweigert die Dokumentation meiner Anstrengungen. Das halte ich nicht aus, springe unter einer Brücke ab, packe den Geldbeutel und eine Münze aus, drehe die Batterie raus, setze sie wieder ein und fahre bei Kilometer 0, Dialogsprache jetzt englisch, wieder in den Regen hinein. Aber wenigstens geht das Drecksteil wieder und kennt noch meinen Radumfang und weiß, dass ich Kilometer und keine Meilen fahre und zähle.
Jetzt aber mal rein in die Eisen und damit voll im die Scheiße. Bereits im Stadtgebiet München waren nicht mehr alle Uferwege geteert, aber kaum 20 Minuten aus der City raus finde ich mich irgendwie wie am Klondyke. Rechts der reißende Strom, lehmgelb, links eine 40-50 Meter fast senkrecht aufragende schlammig bewaldete Böschung, oben ein wolkenverhangener, fast dunkler Himmel. Unter den Reifen ein Weg, der jeder Beschreibung spottet: Kies, nasses Laub, Wurzeln, Steigungen am Hang, Abfahrten. Auch heute muss ich ein paar mal aus dem Sattel springen, ich habe aber Übung und nennen mein nächstes Buch „Rutschgefahr an Lech und Isar“.
Gelacht, 15 Uhr und mehr, es geht nicht vorwärts, Lenggries, gibt es das wirklich? Ich stecke beinahe fest, mitten in den verpissten Isarauen. Kann ich in hier in der Wildnis übernachten, gibt’s hier Handy-Netz? Den Regen lasse ich jetzt einmal unerwähnt, auch weil es wirklich Spannenderes gibt: beispielsweise ein quer liegender meterdicker Baumstamm, geziert von rot-weißen Bändern und einem Schild: „Durchfahrt verboten. Steinschlaggefahr. Eigene Gefahr….“. Links im Steilhang allenfalls Gemsenpfade, die mit dem Lastfahrrad nicht zu machen sind, rechts die Isar, vor mir KEINE Umleitungsempfehlung, hinter mir München.
No way, my Liaba, nicht mir mir, da werd‘ ich g’rad wild und wuchte das Güterfahrrad über die glitschige Barrikade, durchfahre knapp 2 Kilometer die Gefahrenzone, überwinde die Sperrung auf der Gegenseite und treffe nach 1 Kilometer auf die nächste Barrikade. Oha! Dazwischen war kein Abzweig, es gibt also einen nicht gesperrte Strecke, auf die man nur kommt wenn man die gesperrte absolviert hat. Raffiniert. Ich ignoriere auch diese Sperrung, natürlich. Lenggries, auf nach Lenggries, der Lenggries rush hat mich gepackt!
Nach einer Weile – wer hat an der Uhr gedreht? – unerwartet eine flachere und breitere Streckenführung, Schotter, Einmündung auf eine stark befahrene Autostraße, es geht sowohl links als auch rechts – sagen die Schilder – weiter nach Wolfratshaus, ich schlage mich schiebend und nach wie vor im Regen steil die Autostraße hoch nach Grünwald (ist das nicht eigentlich noch München?). Oben beschließe ich, die neonquietsche Warnweste anzuziehen und ab sofort stoisch der Autostraße nach Bad Tölz zu folgen. Heute keine Abenteuer mehr direkt am Fluss. Oder eben doch. Von der Straße rät ein Mann mit Gärtnerhut dringend ab – „Das ist nur Scheiße!“ – und verspricht ab hier und sofort einen ebenen und ASPHALTIERTEN Weg unten an der Isar (s.a. „Satteltasche“). Den gibt es dann auch bis kurz vor Wolfratshausen, ich trete zum ersten Mal an diesem Tag kräftig in die Pedale, sehe 30 jetzt dann doch endlich gefahrene Kilometer auf dem Tacho, aber noch lange nicht Lenggries vor mir.
Denn dieses war dann auch das letzte geteerte Stück für heute direkt an der Isar, bald befinde ich doch wieder auf Wegen wie im Frankfurter Stadtwald, Pfützen, Wellen, Wurzeln. Überhaupt sehe ich schon aus wie ein Schlammringer. Welche Wirtin wird mich so noch nehmen? Bei der nächsten Gelegenheit büchse ich aus und frage wieder nach einer Autostraße nach Tölz, die ich dann auch bei Königsdorf erreiche. Die führt aber nicht am Fluss lang, sondern schneidet quer einen Bergrücken, um den sich unten die Isar schlängelt. Auf dieser Straße genieße ich nun von Hof zu Hof und in Schlangenlinien den Hang eine Stunde auf und ab fahrend, schiebend, rollend die Bergwertung des Tages. Der Regen hört auf, um während einer Rast gleich wieder anzufangen. Tölz noch 9, noch eine Steigung, noch 7, ich zähle rückwärts, überlege wie weit es wohl von Tölz nach Lenggries noch sein könnte, es geht auf 18 Uhr, und lege mich, weil ich etwas forsch die nasse Straße hinuntergerollt bin, bei einem übervorsichtigen und ängstlichen Bremsversuch beinahe quer auf die Fahrbahn. Ich stelle fest, das Gepäck zieht.
Langsam reinrollen nach Bad Tölz – ist das wirklich wahr? Ja, aber unspektakulär, weil grau und verregnet. Aber wenigstens ist keine Eile mehr. Es sind nur wenig mehr als10 Kilometer. Es gibt einen Radweg, aber der ist natürlich asphaltiert. Das ist mir egal, ich fahre Sparflamme und erreiche in 9, 8, 7, 6, 5 …. Kilometern gegen 19 Uhr den Lenggrieser Hof. Fertig mit Tablet, Backfischsemmeln, Steinschlägen, glitschigen Waldwegen und auf Almen scheißendem Fleckvieh. Fertig mit der Welt.
(Anmerkung: für Blogbeiträge dieser Länge gibt es hoffentlich keinen weiteren Anlass. Aber es musste einfach mal raus… Und dass heute nicht viel fotografiert worden ist, versteht jeder, der schon einmal durch einen Steinschlag geradelt ist ….)
Zahlen
Tageskilometer: 73,26
Gesamtkilometer: 423,63
Tag 4 – Von Nördlingen nach Augsburg
Sonntag, 14. Juni 2015
Der Plan
Von Nördlingen nach Augsburg über Donauwörth, angesetzt mit etwa 85 km
Wie es war, was geschah
Nach Verabschiedung von Frau M. auf in Richtung Donauwörth. Nicht ohne vorher gespült zu haben und ohne zu überprüfen, ob ich auch sonst nichts verschmutzt habe und Frau Erika unnötige Mühe verursache. Auch der Sessel im Wohnzimmer wird aus der Fernsehposition wieder im rechten Winkel zum Tisch gerückt, jawoll. In der Küche hatten frühere Gäste ein paar Beutel Minze- und Hagebuttentee zurückgelassen, den ich mir stark gezuckert als Frühstück gönne. In einer Ferienwohnung gibt es schließlich kein Frühstücksbüffet.
Der Radweg ist breit und begleitet die gemächlich sich dahin ziehende Bundesstraße 25 immer schön mäßig schräg über ohnehin nicht sehr hohe Rücken. Bei Harburg geht es über die einzige nennenswerte, aber harmlose Höhe für heute – ich durchfahre dabei einen wegen Bauarbeiten gesperrten Tunnel, sonntags wird nicht gearbeitet -, dann entlang der Wörnitz über Wörnitzstein nach Donauwörth. Es ist am Vormittag schon unangenehm schwül und drückend.
In Donauwörth gegen Mittag, Kirchenglocken. Auf der zentralen Ortsstraße eine Ausstellung der örtlichen Autohäuser, viel ferrari-roter und oranger Lack, blanke Felgen, riesige LKW-Reifen hängen von einem mobilen Kran, Informationsstände, Luftballons. Die Luft steht, der Asphalt und die Pflastersteine sind heiß und unwirtlich, etwas abseits nehme ich eine große Apfelschorle, mache keine lange Pause.
Nach Überquerung der hier noch sehr übersichtlichen Donau vollzieht sich der Einstieg in den Radweg „Via Claudia Augusta“ in endlosem rechtwinkeligen Zickzack entlang von Ackergrenzen in der weiten Ebene des Lechtals. Es geht nicht voran. Aber irgendwann geht es dann doch auf eine geradeaus führende Landstraße, mal mit, mal ohne Radweg an der Seite und plötzlich – etwa anderthalb Stunden nach Donauwörth – führt ein Feldweg überraschend in einen Auwald und direkt an den Lech.
Auf einer langen ermüdenden Strecke über einen landschaftlich wunderbaren, aber leider stellenweise hübsch rutschigen Schotterweg zwischen Lech und Lechkanal traumhafte Aussichten durch den Uferbewuchs auf den Fluss. Immer wieder türkisch und flaschengrün vexierendes Wasser, weiße Kiesbänke, Sonnenschirme, Menschen auf Matten, Kajakfahrer. Ein Braunkehlchen unterhalb meiner Rastbank, eine Smaragdeidechse kreuzt die Fahrbahn. Unbedeutend ein Ausrutscher auf Kies mit Absprung. Das Rad liegt, ich stehe, nichts passiert. Idyll pur. Das geht so fast zwei Stunden.
15 Kilometer vor Augsburg zurück in der Zivilisation. An einer Tankstelle Jause mal anders: 2 Snickers, 1 Dose Cola eisgekühlt. Die letzten Kilometer nach Augsburg im Trettran, über Vorortradwege, einfach nur noch ankommen. Es wird immer schwüler. Da ich – schon in der Stadt – mein Ziel nicht gleich finde, aktiviere ich das Navi der Hotelbuchungs-app auf meinem Smartphone und lasse mich einhändig weiterfahrend von einem geduldig sprechenden Fräulein lotsen.
Ankunft 15 Uhr, einchecken in eine Unterkunft, die sich anders als im Internet als die Jugendherberge herausstellt. Aber sehr nett. Und EZ mit Dusche ist EZ mit Dusche. Klamotten runter, Brause.
Schon am Vorabend war mein Ladegerät für das Tablet nicht mehr auffindbar. Mutmaßlich in Blaufelden. Ich laufe am späten Sonntagnachmittag stundenlang sehr weite Strecken durch die heiß aufgeladene Stadt, um mir ein Bild zu machen, wo ich morgen nach Ersatz fragen kann und wann die Geschäfte aufmachen. Das will ich machen, solange ich das Rad und das Gepäck noch in der Unterkunft lassen kann. Nach der vorgesehenen Bahnfahrt nach München müsste ich dort sonst mit Rad und Gepäck von Laden zu Laden laufen. Ich bin aber unsicher, ob ich morgen in Augsburg tatsächlich fündig werde und schreibe, nachdem ich mich völlig erschöpft zu zwei vorerst alkoholfreien Weißbieren niederlasse, vorsichtshalber Texte vom Tage mit der Hand in ein Notizbuch. Das spätere Abendessen nehme ich in Trance ein, von einem richtigen Zischbier nach einem Gläschen Frankenwein nehme ich Abstand. Kurz vor der Jugendherberge eine Tanke, gut sortiert und besucht von Einzelflaschenaufkäufern, junge Leute, Studenten. Im Bett ein wunderbares Helles, das Fernsehbild verschwimmt.
In der Nacht fängt es an zu regnen…..
Zahlen
Tageskilometer: 87,59 km
Gesamtkilometer: 350,37 km
Fahrzeit heute: 9 bis 15 Uhr
Tag 3 – Von Blaufelden nach Nördlingen
Samstag, 13. Juni 2015
Der Plan
Blaufelden nach Nördlingen, ca. 95 km
Wie es war, was geschah
Crailsheim, 11 Uhr
Heute wieder alles ganz anders, bis jetzt jedenfalls.
Nach ausgiebigem Frühstück, um Frustrationen wie gestern zu vermeiden, schnurstracks auf die gut befahrene, aber doch eher ungefährliche B290 von Ellwangen nach Crailsheim. Dort nach 24 km angekommen und Cappuccino. Auch das Wetter und vor allem die Landschaft sind anders als im Odenwald. Nur seichte Anstiege, laue Temperaturen, der Himmel bedeckt. Ein frischer halber Westwind nimmt mich von der Seite mit in Richtung Jagst, ab jetzt Jagst-Radweg Richtung Ellwangen. So kann es weiter gehen, so bleibt das avisierte Tagesziel, Nördlingen in Bayern, denkbar.
Ellwangen, 13.30 Uhr
Die letzte Bemerkung in Crailsheim muss dem Frust über den gestrigen Tag entsprungen sein, nach zwei Stunden über den Jagsttalradweg bin ich noch einigermaßen frisch, es ist jetzt nur eine Frage der verbleibenden Entfernung und des Geländes, ob ich in Nördlingen ankomme oder nicht. Bis jetzt wenig fotografiert, wobei man wegen Crailsheim das Fotografieren auch nicht unbedingt hätte erfinden müssen.
Nettes Geplauder bei Nieselregen mit einem E-Bike fahrenden älteren Ehepaar aus der Würzburger Gegend unter dem Vordach eines Super- oder Getränkemarkts am Rande von Ellwangen. „Sind Sie immer mit dem Fahrrad unterwegs, das ganze Jahr?“
In einem Fahrradladen hole ich mir Tipps für die Weiterfahrt nach Nördlingen und nehme abweichend von meiner Planung eine durchgehende Landstraße, nördlich entlang der in der Entfernung teils ganz ordentlich aufragenden Hügel der europäischen Wasserscheide. Dahinter fließt alles in Richtung Donau und dann ins schwarze Meer, auf meiner Seite alles in Richtung Rhein und Nordsee.
Die Straße aus Ellwangen heraus bleibt der letzte und einzige nennenswerte Anstieg an diesem Tag- Ich schiebe vorsichtshalber und trete oben auch die nächsten 30 Kilometer nur leicht in die Pedale, unterstützt von einem flotten Rückenwind, den das angekündigte, aber ausbleibende Unwetter über Süddeutschland schickt. Ich zähle Kilometer rückwärts bis in der Entfernung bereits die legendäre Silhouette von Nördlingen zu sehen ist. Halleluja.
Kurz vor Einfahrt in die Stadt verkündet weithin sichtbar ein wirklich riesen Riesenrad nichts Gutes für die Zimmersuche. Ausgerechnet hier habe ich nicht reserviert. Hinter dem Baldinger Tor der Goldene Löwe und der Rote Ochse. „Nichts mehr frei“, weder im Löwen noch im Ochsen, doch Heinz, der ganz offensichtlich in die regierende Wirtinnen-Dynastie des Löwen eingeheiratet hat und im nachmittags verschlafenen Gasthaus zusammen mit Kumpels die Zeit totschlägt, lässt den von so weither mit dem Rad gekommenen „jungen Mann“ nicht einfach so und mit dieser abschlägigen Auskunft versehen wieder gehen: „Ich find‘ Ihnen was. S’werdd nedd einfach sein, es ist Messe, aber es muss doch ein Zimmer geben.“
Er führt mehrere Gespräche mit Hotels, die alle mit Absagen enden, unterbrochen von langen schweigsamen Pausen, in denen er mit stoischer Ruhe im Beherbergungsverzeichnis – „Ich missd a’maal a paar neuje hole“ – blättert und auch einen Mann am Tisch bittet, eine Nummer aus dem Telefonbuch zu suchen, was aber nicht so einfach ist, da in Nördlingen das Alphabet vielleicht anders geht. Heinz telefoniert freisprechend, sein iPhone liegt vor ihm auf dem Tisch. Er spricht ein hartes Zeitlupenalbschwäbisch: „Haa-loo …. Duuu…. Eee-ri-gga ……heeerst Du miii?…. Kannst mich heeeeere? Ja? …. Also. Eeeri-gga, i bins‘, dr Hoins. Heerst mi, gell?…. Also, do is a Herr, woo ...“
Heinz schafft es, er bringt mich privat unter. Ich war von einem Zimmer ausgegangen, residiere aber derzeit in der Einliegerwohnung von Erika M. in der Bozener Straße im „Südtiroler Viertel“ von Nördlingen, außerhalb der Stadtmauer, jenseits des Friedhofs: großes Schlafzimmer, kleines Schlafzimmer, – „Sie haben die Auswahl.„- Wohnzimmer, Küche, Bad. Vorkasse versteht sich: „Dann bekomme ich noch 45 Euro von Ihnen. Sie haben den Schlüssel, ich komme nicht mehr runter.“
Am Abend zu einer Pizza in der Stadt ein Weißbier, dann eine Runde über die Nördlinger „Messe“. Es ist auch um 20 Uhr noch unerträglich heiß, zudem extrem laut. Schon von weitem kreischende Mädchen oder laut abgespielte Tonbandaufnahmen von kreischenden Mädchen aus Fahrgeschäften jeder Art, beim Überschlag, beim quer Gewirbeltwerden, rückwärts, vorwärts, oben, unten. Das sportplatzgroße Bierzelt noch heißer, noch lauter. Maßkrüge. Eine multikulturelle Blas-, Hupf- und Singkapelle singt von jeder Art von Heimat: Bodensee, Tirol. „Ein Prosit.“ – „Auf geht’s! Gemma.“
An den Tischen vor allem die 14-bis 18-jährigen Mädchen mehrheitlich in Dirndln, pickelige Streuselkuchen mit wenig Holz vor der Tür. Ich nehme ein Weißbier im Stehen und fotografiere in die Menge, künstlich-gewollte natürlich-urige Szenen. Das hier ist Komasaufen im Eventformat, kein Volksfest.
Abgang, noch einmal in den Löwen, ich hatte Heinz in Aussicht gestellt, noch einmal vorbei zu kommen. Zwei Helle, keine neuen Erkenntnisse. Außer vielleicht, dass Heinz eventuell doch der Wirt ist und die weißgekittelte Dame mit starrem Blick auf den Boden nur die eingeheiratete Ehefrau. Dafür spricht eine jetzt anwesende zweite und deutlich ältere Kitteldame, die sofort als Platzhirschin zu erkennen ist und die als Mutter eher auf den Heinz hinauskommt als auf die andere Dame.
Abgang die zweite, heim in die Einliegerwohnung. Jogis Buben schlagen Malta 7:0. Gute Nacht.
Zahlen
Tageskilometer: 93,84 km
Gesamtkilometer: 262,78 km
Fahrzeit heute: 9.30 bis 16.30 Uhr
Tag 2 – Von (Amorbach) Walldürrn nach Blaufelden
Freitag, 12. Juni 2015
Der Plan
Von Amorbach nach Walldürn mit der Bahn, um Steigungen und ein paar Kilometer zu sparen. Von dort kalkulierte 75 Kilometer mit dem Rad quer über den westfränkischen Odenwald nach Blaufelden.
Wie es war, was geschah
Die Radetappe zum Vergessen, ein richtiger Sch…tag. Der Abend zum Schwärmen und Erinnern.
Hans H. zeigt am Morgen nach dem Frühstück seine beeindruckende Kunstsammlung nebst eingebundenen eigenen Werken. Danach Autoführung mit mir als nachfolgendem Radfahrer in Amorbach. Ende am Bahnhof, der um 9.20 Uhr schon unter einer schwülwarmen Sonne liegt. Klamotten runter hilft kaum, ich fühle mich schon jetzt gesotten.
Das letzte Planmäßige an diesem Tag ist die Fahrt mit der Westfrankenbahn hinauf nach Walldürn. Dort unklare Wegweisungen, Baustellen, Umleitungen. Einen ausgewiesenen Radweg verschmähe ich zugunsten einer vermeintlich schnelleren Linie über die Autostraße, die aber die falsche ist und in eine völlig falsche Richtung führt. Zwei nachfolgende Kurskorrekturen gehen ebenfalls in die Hose bzw. in die Beine und aufs Gemüt. Vor allem geht es von Dorf zu Dorf über beachtlich hohe und langgezogene Buckel, nirgends Schilder in die Richtung, in die ich eigentlich will. Einige flotte Abfahrten mache ich auf gleichem Weg bergauf wieder rückgängig, anfangs noch stoisch, später zunehmend zerknittert. In Erfeld und Buch bin ich zurück auf dem vorgesehen Kurs, von den 30 Kilometern auf dem Tacho sind aber 20 Irrfahrt, faktisch habe ich seit Walldürn kein Land gewonnen, lediglich in desolaten Zwergortschaften greise Landwirte nach dem Weg gefragt, wenn denn überhaupt jemand anzutreffen war. In Buch immerhin der Durchbruch: Ein Mitarbeiter einer Autowerkstatt hat den totalen Durchblick und rät zu einer Route, die jetzt und ab sofort einen Bach entlang praktisch immer bergab nach Königshofen an die Tauber führt. Unten angekommen bin ich völlig ausgelaugt und kann und will nicht mehr. Auch weil ich weiß, dass es von hier eine direkte Bahnverbindung nach Blaufelden gibt.
Um nicht bei Kilometer 60 den Tag zu beschließen fahre ich noch ein Stück die Tauber flussauf. Kurz vor Bad Mergentheim wird eine Schale warme ungewaschene Erdbeeren mein spätes Mittagessen. Neben dem Spargelstand an der tosenden Bundesstraße der gepolsterte Sessel eines 88-jährigen Nachbarn. „Ich wohne hier, das ist meine Unterhaltung. Was meinen Sie, wie alt ich bin?“
Ab Mergentheim, wo ich dann nach kurzem Rundgang und einer kalten Cola in die Bahn steige, von der ich schon bei km 50 träumte, zockelt der Zug 45 Minuten nach Blaufelden. Unterwegs nette Gespräche mit anderen Radlern, u.a. einem Rennrad, der mir E-Bike mobbend ein paar Perspektiven und Tipps für morgen mit auf den Weg gibt, wenngleich er auch keinen Plan für die Strecke von Ellwangen nach Nördlingen hat. Lasset uns beten, dass es morgen auf der Hohenhoher Ebene anders zugeht als im westfränkischen Odenwald heute Vormittag.
Mit Ankunft in Blaufelden dann der völlig andere, zweite Teil des Tages. Der vorgebuchte Gasthof Hirsch hat sich in den 30 Jahren, die ich nicht hier war, kaum verändert. Helle offene Gasträume und die einsehbare riesige Küche im Erdgeschoss. Der Hausherr und Koch, Manfred Kurz, putzt in meditativer Ruhe Pfifferlinge.
Mein Fahrrad kommt in einem ehemaligen Kühlraum unter. Zimmer 7 ist im 2. Stock, der Weg hinauf die letzte Erinnerung an die Quälerei vom Vormittag. Gepäck und Apfelschorle wiegen schwer, die Dusche baut auf. Auspacken, Geräte laden gemäß mitgebrachtem Merkzettel, was bei Hotelankunft nicht zu vergessen ist. Das Hemd vom Tage ist dran und wird handgewaschen.
Telefonat und ich-lebe-noch-Meldung bei der Ehefrau. Ich erfahre, dass die Fußballerinnen gegen Norwegen nur unentschieden gespielt haben. An Fernsehen war gestern nicht mehr zu denken, „too much Rosé“.
Dann werfe ich staunende Blicke auf die Speisekarte: ich wusste, dass hier gut gekocht wird, hatte aber nicht wirklich mit Austern, Bries, bretonischem Steinbutt und einem ausgewachsenen Feinschmeckermenü gerechnet. Ich nehme das Kalbsbries mit Spargel und Morcheln, dazu einen nicht mehr ganz jungen fränkischen Silvaner. Alles perfekt, aber schnörkellos, kein Schnickschnack, nur der Geschmack von Bries, einer wunderbaren Panade, von Morcheln, Spargel, einer guten Brühe, von Butter und Sahne. Dass die Morcheln so authentisch waren, dass sie noch ein wenig Sand aus der Heimat mitbrachten, war mir völlig gleich, man hätte satt sein müssen von diesem Teller. Aber ich hatte ja noch den Ochsenschwanz, Kron und Gemüse. Perfekte klassische Küche, die Rotweinsauce zum Ochsenschwanz samtig glänzend eingekocht kurz vor Gelee, vollkommen rund, dunkelbraun. Das (der, die?) Kron rosa kurzgebraten, in Streifen geschnitten, mit grobem Salz bestreut und mit bestem Olivenöl begossen. Ich bin verblüfft, das die Kombination mediterran mit klassischer Sauce so gut harmoniert und grunze als ich ganz zum Schluss mit dem letzten Schluck Badener Spätburgunder mit dem Saucenlöffel noch eine einsame Wacholderbeere vom Teller kratzen und zerkauen darf.
Nachtisch ist gänzlich unmöglich, mit einer Apfelschorle verziehe ich mich gegen 22 Uhr in die Kemenate. Feierabend.
Die Zahlen
Tageskilometer: 69,25 km
Gesamtkilometer: 168,92 km
Fahrzeit heute: will ich gar nicht wissen….
Tag 1 – Von Frankfurt nach Amorbach
Donnerstag, 11. Juni 2015
Der Plan
Frankfurt – Amorbach, bis Miltenberg entlang des Mains, eventuell ein paar Flussschleifen abkürzen.
Etappe veranschlagt mit 90-100 km.
Wie es war, was geschah
Abfahrt in Frankfurt gegen 9 Uhr, Verabschiedung wie im falschen Film. „Was mache ich in dieser Verkleidung?“. Gemütlich-zögerlich durchs Nordend und Bornheim, durch die einkaufenden und kinderwagenschiebenden Mütter auf dem Friedberger Platz, über den Sandweg, nur nicht mit den breiten Taschen anstoßen, ganz vorsichtig mit dem Lastfahrrad. Ich bin der Brummi.
Das lockert sich langsam hinter Fechenheim am Mainufer. SMS von RK, der sich für das Wetter lobt. In der Tat: Sensationelles Radwetter, nur der Wind bläst durchgängig in Gegenrichtung. Egal.
Auf der Strecke viele Paare zwischen 50 und 70. Man grüßt sich: „tn’Mor!-gen!“.
Es läuft alles locker, trotz Erkältung, erst ab Kilometer 90, kurz vor Amorbach werden die Beine matt. Unterwegs eine unbefriedigende Currywurst-Pommes-Majo, ein Campingplatz bei Wörth am Main: „Befahren des Lokals verboten!“.
Empfang und sensationelle Unterbringung bei Familie H. in Amorbach. Wir sitzen auf der Veranda wie auf einer erhöhten Warte mit freiem Blick auf den Hang gegenüber, hinunter ins Tal und den steil aufsteigenden frühsommergrünen Odenwald. Falken greifen Bussarde an, den ganzen Abend, immer wieder.
Wir sitzen bei dunklem Bier und Rosé vom nahen fränkischen Main bis gegen 22 Uhr und in die Dämmerung hinein, Hans, Christine, zeitweise ein weiterer Wolfgang, und ich und erzählen von Gott und vor allem der Welt und zwar sprichwörtlich und wie gut es uns doch geht.
Das Wichtigste aber: Hans hat sich für seinen Webergrill statt Rost eine Plancha gefertigt.
Man lernt nie aus.
Zum Abendessen Schinken, Melone, Weißbrot. Wunderbar.
Zahlen
Tageskilometer: 101
Gesamtkilometer: 101
Fahrzeit heute: ca. 6 Stunden