Ziegenfrischkäse, Broccoli-Püree, Bärlauchknospen.
Dichtheit und Wahrung
Die, wenn auch nur vorübergehende oder eingeschränkte, Dichtheit eines Gefäßes erlaubt diesem die Wahrung seines Inhalts, mindestens zeitweise, vielleicht aber auch dauerhaft.
Dichtheit und Wahrung hängen also zusammen, durch welche Gesetzmäßigkeiten genau auch immer verbunden.
Wer wollte da noch ohne Not behaupten, dass es sich mit Dichtung und Wahrheit anders verhielte?
Richard Köhler: Mischwald 2019
Freitag, 6. Dezember 2019, 19 Uhr (Eröffnung)
Gallus Theater, Kleyerstr. 15, 60326 Frankfurt
Richard Köhler
MISCHWALD 2019
Bilder
Ausstellung bis 11.1.2020
Öffnungszeiten:
Mo-Fr, 14-18 Uhr
und zu den Theaterveranstaltungen
http://www.gallustheater.de/2019/12/rkohle3.php
Von den unangemessenen Angemessenheiten
Immer wenn mich bei Überqueren eines Zebrastreifens bei Rot auf der anderen Seite eine struppig schnurrbärtige ältere Dame mit ausgestreckter, auf mich zeigender Gehhilfe mit den Worten empfängt:“Sie sind ja kein Vorbild für die Kinder!“, denke ich nicht etwa; „Alte, lass mich doch in Frieden“ oder „Sind doch gar keine Kinder da, lass gut sein“. Meistens denke ich: „Hätte ich auch sein können.“ Dreitagebart ist schon da, Gehhilfe wird schon noch kommen.
KRAUTREPORTER: Schleichwege zur klassischen Musik (Folgen 1-10)
Auf der Plattform Krautreporter ist eine sehr lesenswerte, zehnteilige Artikelserie mit Hörbeispielen erschienen, die dazu auffordert und anregt, die Scheu vor „klassischer Musik“ abzulegen und sich unbefangen und vorurteilsfrei damit zu beschäftigen.
Der 10. und letzte Beitrag ist gerade erschienen unter https://krautreporter.de/3084-die-klassik-formel.
Danke und großes Lob für die Serie insgesamt, vor allem für den Versuch, Leute zu interessieren, die unbegreiflicherweise bei Literatur und vielleicht auch noch Bildender Kunst durchaus quer durch die Epochen über einen sehr kompetenten und profunden Verständnis- und Interpretationshorizont verfügen, bei Musik aus der gleichen Zeit aber komplett passen.
Ich habe einmal einer Arbeitskollegin aus einem nicht-musikalischen Zusammenhang, die selbst malt, den Besuch der „Nase“ von Schostakowitsch in der Frankfurter Oper empfohlen. Die kam fast geschockt und verständnislos heraus, sie fand das 1930 uraufgeführte Stück „zu modern“, wobei ich denke, dass nur das Lesen der Gogol-Erzählung aus dem Jahr 1836(!) nicht diese Reaktion ausgelöst hätte. Für die Literatur hätte der Kompass gereicht, nicht aber für Musik. Leider habe ich dann meinen eigenen pädagogischen Versuch vermasselt, indem ich etwas undiplomatisch festgestellt habe, dass man ihre musikalische Bildung vergleichen könne mit Menschen, die beim Lesen nicht über comic strips hinaus gekommen sind. Eigentlich wollte ich sie damit einleitend zur gleichen Erkenntnis führen, die auch den o.a. Krautreporter-Artikel leitet: man muss Musik(hören) lernen wie man auch Lesen und Rechnen lernt. Schritt für Schritt, Wort für Wort, Satz für Satz. Mit 6-8 Wochenstunden Musik in der Schule kommt man selbstverständlich auf ähnliche Bildungsergebnisse wie in der Mathematik oder im Deutschunterrricht. Leider konnte ich die Kollegin mit meinem Vergleich nicht dazu bewegen, ein paar Stunden Musik in der Woche zu belegen, sie zog vielmehr eher etwas verschnupft und beleidigt von dannen. Da macht es diese Artikelserie schon deutlich besser als ich. Daher nochmals Danke.
PS: Ich unterstütze die „Krautreporter“ durch einen jährlichen Mitgliedsbeitrag.
Sammlerschoten (1): Gyula Conrad, Tengerpart (Meeresufer)
Gyula Conrad
Budapest 25.6.1877 – 26.6.1959
Tengerpart (Meeresufer) 1910
Farbholzschnitt, 32×22 cm
September 1994, Budapest , Ecseri-Flohmarkt:
Eine zurückhaltende, bürgerlich wirkende Dame, keinesfalls eine Trödlerin, bietet einen Farbholzschnitt an, der auf uns irgendwie „japanisch“ wirkt. Sie steht an einem der von Privatleuten für gelegentliche Verkäufe verfügbaren Tische und hat wenig mehr dabei als ein paar kleinere Grafiken. Mal wieder ein Disput mit der Ehefrau, ob man für so etwas umgerechnet 30 DM ausgeben muss. Außerdem habe ich wie oft nicht genug oder kein passendes Geld dabei und muss mir den Betrag borgen. Am Ende können wir uns doch auf einen Kauf verständigen. Die Verkäuferin schreibt etwas in ein liniertes Schulheft, vielleicht verkauft sie für Nachbarn und Bekannte. Über den möglichen Namen des Künstlers sprechen wir nicht. Es war noch weit vor der Zeit, zu der ich begonnen habe, Verkäufer mit Fragen nach der „Provenienz“ eines Bildes zu löchern – ein Wort, das ich damals überhaupt noch nicht in meinem aktiven Wortschatz hatte – und alles aus Ihnen herauszupressen, was man sonst noch dazu wissen könnte und möglichst noch mehr.
Nach diesem Tag wird das Blatt aber schnell zu einem Kernstück der damals noch kleinen Farbholzschnitt-Sammlung und hängt lange in der originalen Rahmung in der Wohnung. Wir finden es beide absolut schön. Der Künstler bleibt für über ein Jahrzehnt unbekannt. Das Monogramm liest sich – wenn man es weiß – zwar sicher „CG“ oder „GC“, aber es lassen sich mit Phantasie auch andere Buchstaben erraten. Signatur und Bezeichnung sind stark verwischt. Eine Weile träumen wir davon, einen Holzschnitt von Lajos Gulácsy (1882-1932) besitzen, auch wenn Grafiken dieser Art von ihm schon damals nicht nachzuweisen waren. Denn Gulácsy ist ein sehr teurer ungarischer Maler. Der klassische Flohmarkttraum eben.
Aber wir haben keinen Chagall im Trödel gefunden. Wer genau und wann den Schnitt Gyula Conrad zugeordnet hat, ist nicht mehr nachzuvollziehen. Zunächst ist die Erkenntnis eher ernüchternd. Der Name Conrad sagt uns wenig, auch das um das Jahr 2000 herum zunehmend als Quelle zur Verfügung stehende Internet weist nur belanglose, uns wenig ansprechende Radierungen nach. Immerhin, für kleinste Beträge kaufe ich gelegentlich weitere Arbeiten von Conrad, Radierungen mit italienischen Motiven, auch eher Banales mit typisch ungarischen Szenen oder ein paar Ex libris, später auch antiquarisch Bücher, zu denen Conrad Illutrationen beigetragen hat.
Und es vollzieht sich ausgehend von der Beschäftigung mit dem „Meeresufer“ ein allmählicher und ständig sich vertiefender Einstieg in die ungarische Druckgrafik der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert. Zum Glücksfall werden deutsche und ungarische Kataloge und Publikation zur ungarischen Grafik der Zeit, insbesondere zu Holz- und Linolschnitten im japonistischen Stil, die Anfang der 2010-er Jahre zugänglich werden und durch die Gyula Conrad in bislang unbekannte Zusammenhänge gestellt wird. Er ist zwar immer noch kein führender Künstler seiner Zeit, im Gegenteil wird er als Autodidakt bezeichnet und deutlich in die zweite Reihe gestellt, aber doch hat er sich aus einem Kreis von Künstlern um den Maler, Grafiker und Lehrer Viktor Olgyai heraus, in Ungarn anfangs des 20. Jahrhunderts wohl am intensivsten mit der Technik und den Möglichkeiten gerade des Farbholzschnittes befasst. Und er traut sich auf Reisen und zu Aufenthalten in Paris, München, London und Italien.
Seine Arbeiten sind zahlreich und weitgehend vollständig in der grafischen Sammlung der Ungarischen Nationalgalerie vertreten, ohne dass sie über Fachpublikationen hinaus bislang Beachtung fänden. Die Blätter sind stilistisch verschieden, auch die künstlerische Qualität streut stark. Es gibt eine Reihe ganz starker Arbeiten aus allen Bereichen, Radierung, Holzschnitt und auch Lithografie, aber auch viel Unscheinbares, Belangloses, Triviales. Und ein guter Maler scheint Conrad eher nicht gewesen zu sein.
Doch keiner seiner sonstigen Farbholzschnitte kommt auch nur annähernd an das „Meeresufer“ heran. Das Blatt hat eine Sonderstellung in Conrads Oeuvre und am Ende auch in der Sammlung Barina, stellt es doch aus heutiger Sicht einen der Ausgangspunkte der Sammlung insgesamt dar. Mit zunehmendem Wissen um seine Bedeutung wurde es im Laufe der Zeit gelegentlich „umgebettet“. Zuerst wurde der alte Rahmen vom Flohmarkt zwar beibehalten, in dem der Druck mit der Scheibe direkt Kontakt hatte, und nur die alte Rückenpappe durch säurefreies Material ersetzt. Zwischenzeitlich musste aber auch der alte Rahmen weichen und wurde ein Passepartout beigegeben, das für Abstand zwischen Druck und dem Museumsglas mit UV-Schutz vor Verblassen sorgt.
Denn über den ganz persönlichen und sammlerischen Wert des Blattes sowie die mögliche Stellung innerhalb der ungarischen grafischen Kunst hinaus, hat sich bei den Recherchen noch etwas völlig Überraschendes ergeben: Es könnte sich um den einzig erhaltenen Abzug handeln. Bislang beruhen alle Kenntnisse der ungarischen Kunstwissenschaftlicher, die sich mit Conrad befassen, zu diesem Druck auf der Beschreibung und schwarz-weiß-Abbildung in einer Ausgabe der Budapester Zeitschrit „Vasárnapi Ujság“ (Sonntagsneuigkeiten) von 1910. Ein weiteres Original in Farbe ist bislang nicht bekannt.
Im September 1994 beginnt also doch noch ein Sammlertraum.
WB – 15.4.2019
Links
Weitere Farbholzschnitte von Gyula Conrad in der Sammlung Barina
- Itatás (Tränke), 1908, 20 x cm
http://www.wolfgang-barina.de/kunst/sammlung/hu-graph/conrad_itatas-fhs-1908.html - Ősz (Herbst), 1908, 42 x 32 cm
http://www.wolfgang-barina.de/kunst/sammlung/hu-graph/conrad_oesz-fhs-1908.html - Firenze, 1909, 21 x 31 cm
http://www.wolfgang-barina.de/kunst/sammlung/hu-graph/conrad-fhs-firenze.html
Alle Arbeiten von Gyula Conrad in der Sammlung Barina
http://www.wolfgang-barina.de/kunst/sammlung/kuenstler_af.html#Conrad
Ungarischer wikipedia-Beitrag zu Conrad
https://hu.wikipedia.org/wiki/Conrad_Gyula
Artikel in „Vasárnapi Ujság“ mit Abbildung der Grafik von Gyula Conrad
http://epa.oszk.hu/00000/00030/02943/pdf/VU_EPA00030_1910_19.pdf
Literatur
- Städtisches Kunstmuseum Spendhaus Reutlingen und Ungarische Nationalgalerie Budapest (Hrg.): In ruhigem Wasser. Holz- und Linolschnitte des ungarischen Jugenstils aus der Sammlung des Ungarischen Nationalgalerie und der Akademie der Bildenden Künste Budapest. ISBN 3-933820-84-7
- Miskolci Galéria (Hrg.): A modern magyar fa- és linometszés 1890-1950 (Der moderne ungarische Holz- und Linolschnitt 1890-1950*). A Miskolci Galéria Könyvei 22, 2005. ISBN 963-85393-1-3 (English summary S. 311-313)
- Földi, Eszter: A képzőművészet mostohagyermeke. A magyar művészgrafika kezdetei 1890-1914 (Das Stiefkunst der Bildenden Kunst. Die Anfänge der ungarischen Kunstgrafik 1890-1914*). L’Harmattan Kiadó, Budapest 2013. ISBN 978-615-5436-03-1
- Vasárnapi Ujság: A grafikai művészet technikái és hivatása (Die Techniken und der Beruf der grafischen Kunst*). Heft 19, 8. Mai 1910, S. 389-393
* Liegt nur in ungarischer Sprache vor, Übersetzung der Titel zur Orientierung.
SULZ!
Was für eine unerwartete Wiederbegegnung. Ein Nachbar in Ungarn beehrt mich mit einem Teller hausgemachtem SULZ, wie man hier früher im schönsten örtlichen Dialekt sagte. Das Wort selbst ist jetzt nicht so gar entfernt von der hochdeutschen „Sülze“, dafür das Gericht in seiner hier vormals gepflegten traditionellen und archaischen Urform – SULZ! – aber umso ferner von all dem, was ich mir selbst täglich auf dem Gebiet der Ernährung beschaffe und zuführe.
Besagtes SULZ, was ist das? Man nehme reichlich Schwänzchen, Füße, Ohren (alles vom Schwein), vielleicht auch ein Schnäuzchen und überhaupt Schwarte und Knochen und koche das Ganze weich, würze nach Geschmack mit Salz, Pfeffer, Paprika. Das Kollagen geht aus Haut, Knochen und Knorpel in die Flüssigkeit über. Zu den frühen Kindheitszeiten, in denen mir Sulz noch durch die ungarndeutsche Familie meiner Mutter und Großmutter präsent war, wir sprechen von den 1950er und frühen 1960er Jahren, waren Kühlschränke noch nicht überall verbreitet, es gab SULZ also nur im Winter, bei uns standen dann immer 6-8 Teller auf der ungeheizten Speichertreppe. Man schippt etwas von den ausgekochten Zutaten auf Suppenteller und gießt reichlich von der Brühe drüber. Mit dem Auskühlen wird die Flüssigkeit durchsichtig und fest, so dass man bedenkenlos den Teller auf den Kopf stellen kann, ohne dass was herausfällt. Keine Gelatine, kein Aspik. Alles Natur.
Gegessen wird kalt, mit Löffel, es schmatzt wenn man etwas aus dem Teller absticht und hochzieht. Meine Oma zog gerne das Gelee durch die Zähne und ließ genüsslich Knorpel zwischen den Zähnen knacken. Ich denke der Spaß beim Essen war ihr ähnlich dem, den andere bei Götterspeise empfinden, auf die jemand Krokant gestreut hat. Und das dürfte fast das Wichtigste gewesen sein, denn an den Knöchlein und Knorpeln war ansonsten wenig, was hätte sättigen können, zumindest kein (rotes) Fleisch. Wie weit Ausgekochtes aus Haut und überhaupt Kollagen und Gelatine Nährstoffe und Kalorien enthält entzieht sich meiner Kenntnis, aber nach so einem Teller SULZ war man sicher trotzdem für eine Weile satt.
Selbst habe ich wohl schon in meiner Kindheit in Deutschland – aus welchen Gründen auch immer – einen großen Bogen um SULZ gemacht. Eine ganze Portion habe ich sicher nie gegessen und glaube auch nicht, dass ich überhaupt mal probieren wollte, musste oder durfte. Das war nicht so meins und Oma war in jedem Fall schneller und gieriger. Aber wir wurden schon als kleine Kinder zum Metzger einkaufen geschickt, mit einer großen Tasche und einem Zettel: Brustkern – „Schiefleisch“ – und Markknochen (für die Suppe), Aufschnitt (für uns Kinder, smile!), später – als wir keine eigenen Schweine mehr großzogen – auch mal Hackfleisch, Schnitzel und Gulasch. In der SULZ-Saison wurde die Liste aber um die Posten „Ohren, Schwänze, Füße“ erweitert. Wir blickten also tapfer nach oben der hessischen Metzgersfrau ins Auge und verlangten die genannten Delikatessen. Dass sowas sonst jemand aus dem Ort gekauft hätte, ist mir nicht erinnerlich, meist wohl nur die aus der „Paprikasiedlung.“ Stigmatisierung durch SULZ! Ein Trauma, wobei es aber auch immer schön war, anders als die anderen zu sein. In diesem Sinne gehört SULZ also sehr wohl zu meiner Biografie, gegessen haben es aber andere.
Warum erzähle ich das? Natürlich nicht, um all die Vegetarier und Veganer um mich herum zu schockieren. Meine Thema ist wie schon früher der Überfluss, die Verschwendung, der Realitätsverlust bei der Ernährung, der unermessliche Luxus, den wir uns leisten, in dem wir von unter tierquälerischen Bedingungen gezeugten und gemästeten Millionen von Lebewesen nur wenige, mit spitzen Fingern ausgewählte Teile konsumieren und wohl 80% des restlichen Kadavers zur Unkenntlichkeit weiterverarbeitet in dekonstruierte Sekundärprodukte oder in Hunde- und Katzennahrung verwandeln oder perverser- und zynischerweise tiefgefroren an die Armen in dieser Welt schicken. Die westafrikanischen Erzeuger ächzen unter dem Konkurrenzdruck von Megatonnen tiefgefrorener billiger Hühnerfüße und –hälse und können selbstgezogene ganze Hühner auf den lokalen Märkten kaum noch zu den entstanden eigenen Kosten verkaufen.
Auf diesem Hintergrund mag mir meine Oma erscheinen wie eine Gallionsfigur für konsequentes und ganzheitliches Wirtschaften und Handeln, wenn sie wohl auch, darauf angesprochen, nicht verstanden haben dürfte, was ich jetzt gerade sagen will. Aber wer von April, Mai drei Ferkel mit selbst angebauten Kartoffeln und zugekauftem Weizenschrot und Kraftfutter „Rrufff A“ bis in den Dezember hinein zweimal täglich abfüttert und groß und fett zieht, sich um Durchfall und andere Krankheiten dieser quiekenden Lebensabschnittspartner sorgte, im Ernstfall den Tierarzt kommen ließ und zwei Tage vor dem Schlachttag weinend am Küchentisch saß, weil Peter und Gretel – sie gab den Ferkeln immer Namen – nun bald zu Schwartenmagen, Wurst und Schinken würden, der kommt nun mal nicht auf die Idee, auch nur irgendwelche Teile der Tiere nicht zu verwerten. Sie war das auf eine unausgesprochene Art und Weise Peter und Gretel schuldig. Da müssen wir noch nicht einmal auf dem klischeeverschmierten Eis „Armut“, „Not“, „Subsistenz“ herumrutschen. Auch mit zwei Kreutzern in der Tasche wäre nix weggeworfen worden. Wir haben in Deutschland noch nicht einmal konsequent alle überlieferten Verwertungsmöglichkeiten wahrgenommen. Selbstverständlich haben wir für die hausgemachten Würste die Därme von Peter und Gretel mit von Opa geschnitzten Holzspateln ausgeschabt und damit gereinigt – damit wurden auch schon wir Kinder betraut -, aber die aufgefangene Schmiere aus Darmwandfett haben wir nicht mehr mit Pottasche vermischt zu Seife verarbeitet. Dafür fand aber sprichwörtlich alles außer den Knochen irgendwie Verwendung für die menschliche Ernährung und sorgte dafür, dass der Bedarf an tierischem Eiweiß für eine komplette Großfamilie auf ein komplettes Jahr mit Peter und Gretel gedeckt war. Anfangs wurde nichts weiter zugekauft, der Rest war Schrebergarten und Gemüse. Aber die komplette Schwarte und alles Fett wurden – ich hatte mit vier Jahren meine erste eigene, von Mutter genähte weiße Schürze an und stolz ein wirklich scharfes und langes Schlachtermesser in der Hand – in Würfel geschnitten und in einem familieneigenen Kupferkessel von einem Meter Durchmesser im Hof über offenem Feuer zu Dutzenden Litern Schmalz geschmolzen, das sämtlichen Fett- und Ölbedarf bis weit ins Jahr hinein decken musste. Wenigstens in meinen ersten Kindheitsjahren wurden Hefekuchen – sei es mit gemahlenem Mohn oder Walnüssen – weder mit Butter noch Öl, sehr wohl aber mit Schweineschmalz zubereitet. Zur Ernährung meiner Familie gehörten selbstverständlich auch Leber, Nieren, Herz, Lunge, Hirn und Blut. Und eben SULZ als Beispiel dafür, was man aus all dem machen kann, das sich nicht zu geräucherter Wurst und Schinken verarbeiten lässt oder wie Schälrippchen in Gläser eingekochten werden konnte.
Ob ich das heute noch mögen würde, sei dahin gestellt. Aber Butter bei die Fisch: auch die gereinigten Blasen von Peter und Gretel fanden Verwendung als Gefäße für eine Dauerwust, die „Ginter“ genannt wurde, wobei es hier nicht um Geschmack oder Zutaten gehen soll, sondern um das umfassende Verwertungsprinzip. Magen und um Nebensegmente erweiterter Dickdarm fanden mit der Wurstspritze aufgefüllt und hernach an den Enden mit zuvor mit sinnigerweise passend handgeschnitzten Holzspießchen – hier wieder Opa Wochen im Voraus vorbereitend am Werk – ihren Verwendungszweck bei Würsten, die gerne ihrer Form und Hülle nach benannt wurden, wenn auch all recht ähnlich schmeckten. „Saures“ aus Leber, Niere, Lunge und Herz war DIE Delikatesse an Schlachttagen. Und eben SULZ.