KRAUTREPORTER: Schleichwege zur klassischen Musik (Folgen 1-10)

Auf der Plattform Krautreporter ist eine sehr lesenswerte, zehnteilige Artikelserie mit Hörbeispielen erschienen, die dazu auffordert und anregt, die Scheu vor „klassischer Musik“ abzulegen und sich unbefangen und vorurteilsfrei damit zu beschäftigen.

Der 10. und letzte Beitrag ist gerade erschienen unter https://krautreporter.de/3084-die-klassik-formel.

Danke und großes Lob für die Serie insgesamt, vor allem für den Versuch, Leute zu interessieren, die unbegreiflicherweise bei Literatur und vielleicht auch noch Bildender Kunst durchaus  quer durch die Epochen über einen sehr kompetenten und profunden Verständnis- und Interpretationshorizont verfügen, bei Musik aus der gleichen Zeit aber komplett passen.

Ich habe einmal einer Arbeitskollegin aus  einem nicht-musikalischen Zusammenhang, die selbst malt, den Besuch der „Nase“ von Schostakowitsch in der Frankfurter Oper empfohlen. Die kam fast geschockt und verständnislos heraus, sie fand das 1930 uraufgeführte Stück „zu modern“, wobei ich denke, dass  nur das Lesen der Gogol-Erzählung aus dem Jahr 1836(!) nicht diese Reaktion ausgelöst hätte. Für die Literatur hätte der Kompass gereicht, nicht aber für Musik. Leider habe ich dann meinen eigenen pädagogischen Versuch vermasselt, indem ich etwas undiplomatisch festgestellt habe, dass man ihre musikalische Bildung  vergleichen könne mit Menschen, die beim Lesen nicht über comic strips hinaus gekommen sind. Eigentlich wollte ich  sie damit einleitend zur gleichen Erkenntnis  führen, die auch den o.a. Krautreporter-Artikel leitet: man muss  Musik(hören) lernen wie man auch Lesen und Rechnen lernt. Schritt für Schritt, Wort für Wort, Satz für Satz. Mit 6-8 Wochenstunden Musik in der Schule kommt man selbstverständlich auf ähnliche Bildungsergebnisse wie in der Mathematik oder im Deutschunterrricht. Leider konnte ich die Kollegin mit meinem Vergleich nicht dazu bewegen, ein paar Stunden Musik in der Woche zu belegen, sie zog vielmehr eher etwas verschnupft und beleidigt von dannen. Da macht es diese Artikelserie schon deutlich besser als ich. Daher nochmals Danke.

PS: Ich unterstütze die „Krautreporter“ durch einen jährlichen Mitgliedsbeitrag.

Sammlerschoten (1): Gyula Conrad, Tengerpart (Meeresufer)

Gyula Conrad
Budapest 25.6.1877 – 26.6.1959

Tengerpart (Meeresufer) 1910
Farbholzschnitt, 32×22 cm

September 1994, Budapest , Ecseri-Flohmarkt:

Eine zurückhaltende, bürgerlich wirkende Dame, keinesfalls eine Trödlerin, bietet einen Farbholzschnitt an, der auf uns irgendwie „japanisch“ wirkt. Sie steht an einem der von Privatleuten für gelegentliche Verkäufe verfügbaren Tische und hat wenig mehr dabei als ein paar kleinere Grafiken. Mal wieder ein Disput mit der Ehefrau, ob man für so etwas umgerechnet 30 DM ausgeben muss. Außerdem habe ich wie oft nicht genug oder kein passendes Geld dabei und muss mir den Betrag borgen. Am Ende können wir uns doch auf einen Kauf verständigen. Die Verkäuferin schreibt etwas in ein liniertes Schulheft, vielleicht verkauft sie für Nachbarn und Bekannte. Über den möglichen Namen des Künstlers sprechen wir nicht. Es war noch weit vor der Zeit, zu der ich begonnen habe, Verkäufer mit Fragen nach der „Provenienz“ eines Bildes zu löchern – ein Wort, das ich damals überhaupt noch nicht in meinem aktiven Wortschatz hatte – und alles aus Ihnen herauszupressen, was man sonst noch dazu wissen könnte und möglichst noch mehr.

Nach diesem Tag wird das Blatt aber schnell zu einem Kernstück der damals noch kleinen Farbholzschnitt-Sammlung und hängt lange in der originalen Rahmung in der Wohnung. Wir finden es beide absolut schön. Der Künstler bleibt für über ein Jahrzehnt unbekannt. Das Monogramm liest sich – wenn man es weiß – zwar sicher „CG“ oder „GC“, aber es lassen sich mit Phantasie auch andere Buchstaben erraten. Signatur und Bezeichnung sind stark verwischt. Eine Weile träumen wir davon, einen Holzschnitt von Lajos Gulácsy (1882-1932) besitzen, auch wenn Grafiken dieser Art von ihm schon damals nicht nachzuweisen waren. Denn Gulácsy ist ein sehr teurer ungarischer Maler. Der klassische Flohmarkttraum eben.

Aber wir haben keinen Chagall im Trödel gefunden. Wer genau und wann den Schnitt Gyula Conrad zugeordnet hat, ist nicht mehr nachzuvollziehen. Zunächst ist die Erkenntnis eher ernüchternd. Der Name Conrad sagt uns wenig, auch das um das Jahr 2000 herum zunehmend als Quelle zur Verfügung stehende Internet weist nur belanglose, uns wenig ansprechende Radierungen nach. Immerhin, für kleinste Beträge kaufe ich gelegentlich weitere Arbeiten von Conrad, Radierungen mit italienischen Motiven, auch eher Banales mit typisch ungarischen Szenen oder ein paar Ex libris, später auch antiquarisch Bücher, zu denen Conrad Illutrationen beigetragen hat.

Und es vollzieht sich ausgehend von der Beschäftigung mit dem „Meeresufer“ ein allmählicher und ständig sich vertiefender Einstieg in die ungarische Druckgrafik der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert. Zum Glücksfall werden deutsche und ungarische Kataloge und Publikation zur ungarischen Grafik der Zeit, insbesondere zu Holz- und Linolschnitten im japonistischen Stil, die Anfang der 2010-er Jahre zugänglich werden und durch die Gyula Conrad in bislang unbekannte  Zusammenhänge gestellt wird. Er ist zwar immer noch kein führender Künstler seiner  Zeit, im Gegenteil wird er als Autodidakt bezeichnet und deutlich in die zweite Reihe gestellt, aber doch hat er sich aus einem Kreis von Künstlern um den Maler, Grafiker und Lehrer Viktor Olgyai heraus, in Ungarn anfangs des 20. Jahrhunderts wohl am intensivsten mit der Technik und den Möglichkeiten gerade des Farbholzschnittes befasst. Und er traut sich auf Reisen und zu Aufenthalten in Paris, München, London und Italien.

Seine Arbeiten sind zahlreich und weitgehend vollständig in der grafischen Sammlung der Ungarischen Nationalgalerie vertreten, ohne dass sie über Fachpublikationen hinaus bislang Beachtung fänden. Die Blätter sind stilistisch verschieden, auch die künstlerische Qualität streut stark. Es gibt eine Reihe ganz starker Arbeiten aus allen Bereichen, Radierung, Holzschnitt und auch Lithografie, aber auch viel Unscheinbares, Belangloses, Triviales. Und ein guter Maler scheint Conrad eher nicht gewesen zu sein.

Doch keiner seiner sonstigen Farbholzschnitte kommt auch nur annähernd an das „Meeresufer“ heran. Das Blatt hat eine Sonderstellung in Conrads Oeuvre und am Ende auch in der Sammlung Barina, stellt es doch aus heutiger Sicht einen der Ausgangspunkte der Sammlung insgesamt dar. Mit zunehmendem Wissen um seine Bedeutung wurde es im  Laufe der Zeit gelegentlich „umgebettet“. Zuerst wurde der alte Rahmen vom Flohmarkt zwar beibehalten, in dem der Druck mit der Scheibe direkt Kontakt hatte, und nur die alte Rückenpappe durch säurefreies Material ersetzt. Zwischenzeitlich musste aber auch der alte Rahmen weichen und wurde ein Passepartout beigegeben, das für Abstand zwischen Druck und dem Museumsglas mit UV-Schutz vor Verblassen sorgt.

Denn über den ganz persönlichen und sammlerischen Wert des Blattes sowie die mögliche Stellung innerhalb der ungarischen grafischen Kunst hinaus, hat sich bei den Recherchen noch etwas völlig Überraschendes ergeben: Es könnte sich um den einzig erhaltenen Abzug handeln. Bislang beruhen alle Kenntnisse der ungarischen Kunstwissenschaftlicher, die sich mit Conrad befassen, zu diesem Druck auf der Beschreibung und schwarz-weiß-Abbildung in einer Ausgabe der Budapester Zeitschrit „Vasárnapi Ujság“ (Sonntagsneuigkeiten) von 1910. Ein weiteres Original in Farbe ist bislang nicht bekannt.

Im September 1994 beginnt also doch noch ein Sammlertraum.

WB – 15.4.2019

Links

Weitere Farbholzschnitte von Gyula Conrad in der Sammlung Barina

Alle Arbeiten von Gyula Conrad in der Sammlung Barina
http://www.wolfgang-barina.de/kunst/sammlung/kuenstler_af.html#Conrad

Ungarischer wikipedia-Beitrag zu Conrad
https://hu.wikipedia.org/wiki/Conrad_Gyula

Artikel in „Vasárnapi Ujság“ mit Abbildung der Grafik von Gyula Conrad
http://epa.oszk.hu/00000/00030/02943/pdf/VU_EPA00030_1910_19.pdf

Literatur

  • Städtisches Kunstmuseum Spendhaus Reutlingen und Ungarische Nationalgalerie Budapest (Hrg.): In ruhigem Wasser. Holz- und Linolschnitte des ungarischen Jugenstils aus der Sammlung des Ungarischen Nationalgalerie und der Akademie der Bildenden Künste Budapest. ISBN 3-933820-84-7
  • Miskolci Galéria (Hrg.): A modern magyar fa- és linometszés 1890-1950 (Der moderne ungarische Holz- und Linolschnitt 1890-1950*). A Miskolci Galéria Könyvei 22, 2005. ISBN 963-85393-1-3 (English summary S. 311-313)
  • Földi, Eszter: A képzőművészet mostohagyermeke. A magyar művészgrafika kezdetei 1890-1914 (Das Stiefkunst der Bildenden Kunst. Die Anfänge der ungarischen Kunstgrafik 1890-1914*). L’Harmattan Kiadó, Budapest 2013. ISBN 978-615-5436-03-1
  • Vasárnapi Ujság: A grafikai művészet technikái és hivatása (Die Techniken und der Beruf der grafischen Kunst*). Heft 19, 8. Mai 1910, S. 389-393

* Liegt nur in ungarischer Sprache vor, Übersetzung der Titel zur Orientierung.